Provenienzforschung (Lost Art) - Forschungsprojekt zur Ermittlung und Rückgabe NS-verfolgungsbedingt entzogener Kulturgüter
Seit Juni 2004 werden die Bestände der Kunstsammlungen der Stadt Nürnberg nach in der NS-Zeit unrechtmäßig erworbenen Kulturgütern, sogenanntes NS-Raubgut, durch das Stadtarchiv erforscht. Die breit angelegte Spurensuche nach den Vorbesitzern, die Provenienzforschung, ist komplex und langwierig.
Zwischen 1933 und 1945 wurde im Zuge der nationalsozialistischen Verfolgung Juden ihr Hab und Gut systematisch entzogen. Interesse an Kunst- und Kulturgegenständen, die sich in jüdischem Besitz befanden, zeigten insbesondere NS-Funktionäre, Kunsthändler, Museumsleute sowie die Reichsfinanzverwaltung.
Nach dem Zweiten Weltkrieg versuchten die westlichen Alliierten diesen Raubzug rückgängig zu machen, die einstigen Eigentümer zu ermitteln und die Objekte, die in Collecting Points zusammengefasst wurden, an diese zurückzuerstatten. Allerdings blieben viele Fälle ungeklärt, weil die rechtmäßigen Besitzer bzw. deren Erben nicht ausfindig gemacht werden konnten. Widerrechtlich erworbene Kulturgüter verblieben deshalb weiterhin in öffentlichen Institutionen, ohne dass deren Herkunft (Provenienz) geklärt wurde.
Es vergingen mehr als 50 Jahre nach Ende des NS-Regimes, bis auf einer Konferenz über Vermögenswerte aus der NS-Zeit in Washington diese lange verdrängte Problematik aufgegriffen wurde. In der am 3. Dezember 1998 von den Teilnehmern beschlossenen Washingtoner Erklärung verpflichtete sich die Bundesrepublik Deutschland, aktiv nach NS-verfolgungsbedingt entzogenen Kulturgütern zu suchen und „eine gerechte und faire Lösung zu finden“. Mit der darauf folgenden Gemeinsamen Erklärung vom Dezember 1999 unterstrichen Bund, Länder und Kommunen ihren Willen, in ihren Kultureinrichtungen (Archive, Bibliotheken, Museen) geraubtes jüdisches Kunst- und Kulturgut zu identifizieren, seine früheren Eigentümer zu suchen und nach Einzelfallprüfung solches an diese oder ihre Erben zurückzuerstatten.
Stadt Nürnberg in einer Vorreiterrolle
Als eine der ersten deutschen Kommunen entsprach die Stadt Nürnberg den Forderungen der Gemeinsamen Erklärung und beschloss 2003, die Geschichte ihrer Kunstsammlungen während der NS-Zeit einschließlich der Herkunft der Erwerbungen im Rahmen eines zunächst zeitlich befristeten Forschungsprojektes untersuchen zu lassen. Im Juni 2004 haben die Forschungen eines wissenschaftlichen Mitarbeiters des Stadtarchivs zur Herkunft von Gemälden, Druckgraphiken, Zeichnungen, Goldschmiedearbeiten, Keramiken sowie Skulpturen bei den Museen der Stadt Nürnberg begonnen. Ein großer Teil dieser in den Jahren 1933–1945 erworbenen Objekte wird als Leihgabe der Stadt Nürnberg im Germanischen Nationalmuseum (GNM) aufbewahrt. Neben der unmittelbaren Objektrecherche befasst sich die Provenienzforschung des Stadtarchivs zudem mit der Genese privater jüdischer Kunstsammlungen in Nürnberg, wie beispielsweise der Sammlung von Julius Langstadt (1879–1959), von Dr. Dr. Max Süßheim (1876–1933) oder von Louis H. Zinn (1870–1938), sowie mit den Akteuren des lokalen, aber auch überregionalen Antiquariats- und Kunsthandels. Die Erforschung der Geschichte des GNM, der städtischen Kunstsammlungen und des Stadtarchivs Nürnberg während der NS-Diktatur unter Berücksichtigung der Rolle der jeweiligen Institutionsmitarbeiter bilden das quellenbasierte historische Koordinatensystem, um eine entsprechende Bewertung der unter Raubgutverdacht stehenden Objekte vornehmen zu können.
Erweiterung des Forschungsgebiets
Obwohl die betreffenden Zugangsregister und Dienstakten während des Zweiten Weltkrieges verloren gingen, gehört die Überprüfung der Provenienzen von Archivalien, die seit 1933 in das Stadtarchiv Nürnberg gelangten, von Beginn an zum Aufgabenbereich der städtischen Provenienzforschung. Die Notwendigkeit die Provenienzen der zahlreichen, von der Stadtbibliothek Nürnberg erworbenen Graphiken zu untersuchen, stellte sich hingegen erst 2013 heraus. Ein Jahr später kamen die seit 1933 getätigten antiquarischen Bucherwerbungen der Stadtbibliothek als Forschungsgebiet hinzu, wie auch die Nachkriegserwerbungen der Kunstsammlungen, die in den Jahren 1947–2013 einen Bestandszuwachs von rund 1.600 Gemälde, 11.000 Graphiken und 1.000 Skulpturen erfuhren.
Innerhalb des Untersuchungsgebiets der Nachkriegserwerbungen liegt seit 2018 ein zusätzlicher Fokus auf der Erforschung von Kulturgut, das süddeutsche Buch- und Kunstantiquariate vor November 1989 aus den Beständen der Kunst und Antiquitäten GmbH – Internationale Gesellschaft für den Export und Import von Kunstgegenständen (KuA) in Ost-Berlin erwarben, um dies anschließend an Dritte zu veräußern, mutmaßlich auch an die Stadt Nürnberg. Die KuA war Bestandteil des dem DDR-Außenhandelsministerium unterstehenden Firmenkonglomerats Kommerzielle Koordinierung (KoKo) unter der Leitung von Dr. Alexander Schalck-Golodkowski (1932–2015). Zum Zwecke der Devisenbeschaffung, vor allem aber zur Sicherung der Zahlungsfähigkeit der DDR, verkaufte die KuA inoffiziell Antiquitäten, antiquarische Bücher, antikes Spielzeug, Gemälde und Graphiken an Auktionshäuser, Händler sowie Privatsammler in der Bundesrepublik Deutschland, Großbritannien, Holland, Lichtenstein, Österreich und der Schweiz. Bei der Beschaffung des Handelsgutes bediente sich die KuA illegaler Methoden, die denen der Behörden in der NS-Zeit ähneln. Neben der Beschlagnahme von zurückgelassenem Kulturgut sogenannter Republikflüchtlinge griff die KuA sowohl auf Privatsammlungen als auch Warenbestände nichtstaatlicher Antiquitätenhandlungen im Rahmen fingierter Steuerverfahren zu. Das enteignete Kulturgut gelangte anschließend über den VEB Antikhandel Export von antiquarischen Büchern und Graphiken in Leipzig oder das KuA-Verwaltungs- und Lagerzentrum in Mühlenbeck bei Berlin zum Verkauf. Die Warenausfuhr der KuA in den Westen endete erst am 22. November 1989.
Offener Umgang mit identifiziertem Raubgut
Das Stadtarchiv veröffentlicht auf seiner Homepage kontinuierlich Kulturgüter aus städtischem Besitz, bei denen von einem NS-verfolgungsbedingten Entzug auszugehen ist. Diese Objekte werden ebenfalls an die Datenbank Lost Art des Deutschen Zentrums Kulturgutverluste in Magdeburg gemeldet. Für Objekte mit ungeklärter DDR-Provenienz wird analog verfahren.
Dr. Dominik Radlmaier
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