Bloß kein Kitsch

Nirgendwo sonst in der Stadt ist die Promidichte so hoch wie hier. Neben Albrecht Dürer, Veit Stoß oder Johann Pachelbel finden auf dem Johannis- und dem Rochusfriedhof seit 500 Jahren aber auch Normalsterbliche ihre letzte Ruhestätte. Touristen kommen in Scharen und staunen schon mal über eine E-Gitarre in Bronze.

Besuchergruppe auf dem Johannisfriedhof

Die Bildmotive der Epitaphien laden Kinder zum heiteren Beruferaten ein.

Zwischen Witwen, die hie und da Verblühtes aus bepflanzten Schalen zupfen, bewegt sich eine kleine Gruppe durch das Gräberfeld. Die achtjährige Lena und der sechsjährige Georg sind mit ihren Eltern auf einer Tour über den Johannisfriedhof, die der Verein Geschichte Für Alle speziell für Kinder anbietet. Wer das Grab mit der Nummer I 649 zum Anziehungspunkt für Besucherinnen und Besucher macht, weiß Lena ganz genau: „Der hat einen Hasen gemalt!“ Im Familiengrab seiner Gattin Agnes Frey endete 1528 das,„was von Albrecht Dürer sterblich war“ – so die von seinem Freund Willibald Pirckheimer verfasste Inschrift auf der bronzenen Grabplatte.

Liegende Sandsteinquader, geschmückt mit Grabplatten (Epitaphien) und saisonal wechselndem Blumenflor – es ist der historische Teil des St. Johannisfriedhofs, dessen einheitliches Bild ihn für viele zum schönsten seiner Art macht. Auch sein Promifaktor ist beachtlich. Hier fanden die großen Nürnberger aus der Blütezeit der Stadt ihre letzte Ruhestätte: neben dem Maler Albrecht Dürer etwa auch der Bildhauer Veit Stoß und der dichtende Schuhmacher Hans Sachs.

Kulturhistorisch nicht weniger bedeutend ist der ebenfalls seit der Renaissance belegte St. Rochusfriedhof im Stadtteil Gostenhof. Die beiden Friedhöfe sind die ältesten erhaltenen Nürnbergs – im Herbst 2018 wird ihr 500-jähriges Bestehen begangen. Und sie sind heute immer noch genutzt, als Sehenswürdigkeiten geschätzt und als Denkmale geschützt.

Beim Familienrundgang über den Johannisfriedhof gibt es für die Kinder viel Interessantes zu entdecken. Führerin Jutta Röckelein lenkt die Aufmerksamkeit auf die erhabenen Bildmotive der aus Bronze oder Messing gegossenen Epitaphien auf den Grabsteinen. Was sollen hier nur die schwingenden Haarsträhnen bedeuten? „Damals konnten nicht alle Leute lesen“, klärt Jutta Röckelein an der Ruhestätte eines hier beerdigten Herrn Schwingshärlein auf. „Die bildlich dargestellten Namen halfen den Trauernden, das richtige Grab zu finden.“

Moderner Epitaph auf dem Johannisfriedhof.

„Sprechende“ Epitaphien finden sich aus allen Zeiten: Hier fand ein 1989 verstorbener Gitarrist und Sänger seine letzte Ruhestatt.

Über das Abbild eines Mannes, der seinen beachtlichen Wanst im Schubkarren spazieren fährt, muss auch Nürnbergs Stadtheimatpflegerin Claudia Maué schmunzeln. Das 1622 gefertigte Epitaph ist dem Goldschmied Hans Bauch d. Ä. gewidmet. Für die Kunsthistorikerin und Vorsitzende des Vereins Nürnberger Epitaphienkunst und -kultur sind jedoch die Initialen „IW“ auf der Metallplatte der eigentliche Hingucker. Der einer Rotgießer-Dynastie angehörende Jacob Weinmann war im Frühbarock der bedeutendste Hersteller der Epitaphien, die nach den Regularien des Nürnberger Rats über Jahrhunderte als einziger Schmuck auf den Gräbern zugelassen waren. Weil das Format der einheitlich in Ost-West-Ausrichtung liegenden Sandsteinblöcke mit drei mal sechs „Nürnberger Werkschuh“, das entspricht 83,52 mal 167,04 Zentimetern, festgeschrieben war, konzentrierte sich die individuelle Gestaltung auf die Bronzegussplatten. „In Nürnberg gab es eine besonders hochstehende Rotgießer- und Bildhauerkunst. Dadurch entstand hier eine wohl weltweit einzigartige Epitaphienvielfalt“, erklärt Claudia Maué.

Histprischer Epitaph auf dem Johannisfriedhof.

Schere, Breze und Blasebalg auf der 1581 gefertigten Bronzetafel zeigen an, dass hier ein Schneider und ein Bäcker begraben sind.

Vom Stolz der Handwerker künden viele der „sprechenden“ Metalltafeln. „Wichtiger noch als christliche Symbolik war die Darstellung dessen, was die Werkmacher erzeugten“, hat die Stadtheimatpflegerin beobachtet. So ziert ein Kettenhemd das Grabmal eines auf gut fränkisch bezeichneten „Bantzermachers“, zeigt eine Breze das Grab eines Bäckers an. Nebeneinander liegen Gräber mit schlichten Metallplatten, die nur die Familienwappen abbilden, und solche, die bilderreich vom Stand der Verstorbenen künden. Ein bronzenes Relief bedeckt komplett den Grabstein des Kaufmanns Martin Peller, das den Heiligen Martin als Bischof und das Familienoberhaupt porträtiert zeigt – beides ungewöhnliche Darstellungen, die den Anspruch auf Sonderstellung unterstreichen. Nur die gehobene Bürgerschaft konnte sich ein eigenes Grab leisten. Einfache Handwerksgesellen ohne Familie wurden in Gemeinschaftsgräbern bestattet.

„Abgesehen von der künstlerischen Qualität sind die Epitaphien großartige Quellen für die Forschung“, befindet Claudia Maué. „Frömmigkeitsgeschichte und Entwicklung der Ornamentik sind über Jahrhunderte ununterbrochen zu verfolgen und für Heraldiker sind die dargestellten Wappen sehr aufschlussreich.“ Zwischen barocken Schnörkeln taucht eine E-Gitarre auf, Zeichen für die Fortführung der traditionsreichen Kunst bei der Neubelegung der Gräber. Wo alte Exemplare erhalten geblieben sind, dürfen neue Bronzeauflagen nur ergänzend angebracht werden. Von den insgesamt etwa 6 500 Gräbern auf dem Johannisfriedhof stehen rund 1 600 unter besonders strengem Denkmalschutz.

Im Juni, zur schönsten Sommerblüte, müssen sich die metallenen Kunstobjekte gegen vegetabile Konkurrenz behaupten: „Das reinste Rosarium!“, staunen Blumenfreundinnen andächtig. Elfi Heider ist den Anblick der prächtigen Rosenstöcke und üppig blühenden Pelargonien gewöhnt, denn die Leiterin der Evangelisch-Lutherischen Friedhofsverwaltung St. Johannis und St. Rochus hat ihr Büro im Steinschreiberhaus auf dem Johannisfriedhof. Beide „Orte der schicklichen Totenbestattungen“ (so der Wortlaut in der bayerischen Verfassung) gehören den fünf Kirchengemeinden St. Egidien, St. Jakob, St. Lorenz, St. Sebald und St. Johannis. Um die jährlich etwa 350 Bestattungen, die Trauerfeiern und die Grabvergaben kümmert sich Elfi Heider mit drei Kolleginnen. Viele Nürnbergerinnen und Nürnberger, die in der Stadt verwurzelt sind und sich ihr verbunden fühlen, wählen den berühmten Johannisfriedhof für ihre letzte Ruhe.

Eine Grabpflegerin markiert mit einem Hinweisschild ein freies Grab.

Friedhofsverwalterin Elfi Heider markiert eine freie Grabstätte.

Während auf der angrenzenden Johannisstraße ein Buskonvoi so langsam vorüber gleitet, dass den gezückten Smartphones der Touristen über die nördliche Friedhofsmauer hinweg Schnappschüsse vom irdischen Paradies gelingen, ist Elfi Heider unterwegs zu einem freien Grab. Etwa ein Drittel der Grabstätten auf dem Johanniser Kirchhof kann neu belegt werden, weil die letzte Ruhefrist – die bei erwachsenen Leichnamen 15 Jahre, bei Aschen zehn Jahre beträgt – abgelaufen ist. „Die Leute sind mobiler geworden, Familiengräber funktionieren nur noch auf dem Dorf“, erklärt die Friedhofsverwalterin das große Angebot. Wer auf die Dauer von zehn oder 15 Jahren ein Grabrecht erwirbt, muss nicht einmal in Nürnberg wohnen oder aus der Stadt stammen. „Alle, die einer christlichen Konfession angehören, können sich hier bestatten lassen“, sagt Elfi Heider.

Der älteste Teil des heute 3,8 Hektar großen Johannisfriedhofs stammt aus dem 13. Jahrhundert, als sich auf dem weit außerhalb der Stadtmauer liegenden Gelände neben der Kirche St. Johannis ein Siechkobel für Menschen mit ansteckenden Krankheiten befand. 1395 kam ein Pestfriedhof hinzu. Weil der „Schwarze Tod“ die Stadt im 14. und 15. Jahrhundert immer wieder heimsuchte, wuchsen die beiden Begräbnisstätten weiter zusammen. Auch die Innenstadtfriedhöfe um St. Sebald und St. Lorenz litten an Überfüllung und waren dem Verdacht ausgesetzt, durch die Nähe zu den Wohnhäusern die Ausbreitung von Seuchen zu begünstigen. Im November 1518 beschloss der Rat der Stadt daher, sie aufzulassen, und legte als Begräbnisstätte für die Bewohner der nördlichen, Sebalder Stadtseite den vor dem Neutor liegenden St. Johannisfriedhof und für die der südlichen, Lorenzer Stadtseite den vor dem Spittlertor neu eingerichteten St. Rochusfriedhof fest.

In der Folge wurde der Johannisfriedhof noch mehrfach erweitert, so kam 1856 der südlich angrenzende ehemalige Schießplatz hinzu. Um diese Zeit lockerten sich die Regeln und die Ruhestätten konnten freier gestaltet werden. Stehende Grabsteine aus Marmor oder Granit und Skulpturen von Engeln oder Trauernden kennzeichnen die jüngeren Gräber, die nun auch vermehrt von Bäumen und Büschen gerahmt sind.

Im nordwestlichen Friedhofsbereich erhebt sich die 700 Jahre alte Johanniskirche. Sie gehört der evangelisch-lutherischen Gemeinde von St. Johannis und ist der einzige aus reichsstädtischer Zeit stammende Sakralbau in Nürnberg, der unzerstört geblieben ist. Nicht nur für Trauerfeiern, sondern auch für Hochzeiten wird er gern genutzt. Ihre Ausstattung mit hochrangigen Kunstwerken des 16. Jahrhunderts hat die Kirche Stiftungen der Nürnberger Patrizierfamilien Holzschuher und Imhoff zu verdanken, die sich auch in der Holzschuherkapelle verewigt haben, der 1506/07 im Nordosten des Friedhofs erbauten Grablege der Namensgeber. Im Inneren der Kapelle endet ein von Adam Kraft geschaffener Kreuzweg, der in der Altstadt beginnt und als vorletzte Station am Nordosteingang des Johannisfriedhofs die Kreuzabnahme zeigt. Ein langgestrecktes Gruftgebäude mit Spitzbogenarkaden im neugotischen Stil, an das sich nördlich eine Aussegnungshalle anschließt, bildet seit 1860 die südwestliche Begrenzung des Johannisfriedhofs entlang der Brückenstraße.

Blick über den Rochusfriedhof.

Von Touristen kaum beachtet, erweist sich auch der Rochusfriedhof als kunst- und sozialhistorisches „Bilderbuch“.

Im touristischen Schatten des größeren Johannisfriedhofs liegt der ebenfalls 1518/19 angelegte Rochusfriedhof. An der Rothenburger Straße gruppieren sich auf 1,1 Hektar über 3 000 Grablegen um die von Konrad Imhoff gestiftete und 1521 geweihte Kapelle, die nach dem Patrizier benannt und immer noch im Besitz der Familie ist. Wer Brillenmacher war, Gürtel herstellte oder Schwerter schmiedete, lässt sich auch hier unschwer erkennen. „Margret Leypoltin kechin pey Sant Larenczen Ir und Aller Erben
Begrebnus“ steht auf dem 1554 gegossenen Epitaph einer mit einem Metzger verehelichten Köchin von St. Lorenz, auf dem einschließlich eines Schweins allerhand Werkzeug zur Herstellung der offenbar damals schon hochgeschätzten Nürnberger Bratwürste zu sehen ist. Peter Vischer der Ältere, aus dessen Werkstatt der Reliquienschrein des heiligen Sebald in der Sebalduskirche stammt, fand auf dem nach dem Pest-Heiligen Rochus benannten Totenacker ebenso seine letzte Ruhe wie der Barock-Komponist Johann Pachelbel.

Eine strenge Friedhofsordnung wacht darüber, dass das Erscheinungsbild beider Friedhöfe bewahrt bleibt. Sämtliche an den historischen Gräbern vorgesehenen Änderungen müssen einem Sachverständigengremium vorgelegt werden. Grabmalberater Michael Gärtner von der städtischen Friedhofsverwaltung ist für die Einhaltung der denkmalrechtlichen Auflagen zuständig. „Grundsätzlich haben wir Respekt vor den Wünschen der Hinterbliebenen“, sagt der Steinmetz- und Bildhauermeister. „Aber die Gestaltung der modernen Epitaphien muss in Einklang mit der Tradition der Friedhöfe geschehen und sich sowohl in der Gestaltung als auch in der handwerklichen Qualität in das Gesamtensemble einfügen. Billige Souvenirladenqualität lehnen wir ab“, betont Michael Gärtner. Ihm ist es ein Anliegen, dass dies nicht historisierend, sondern durchaus zeittypisch geschieht. So spannt sich eine gewölbte Bronzeplatte mit per Laser herausgeschnittenen Buchstaben über eine alte Schrifttafel, die dadurch lesbar bleibt, legt sich ein Lenkdrachen, dessen einzelne Schweifglieder je einem Familienangehörigen zugeordnet sind, über die Fläche eines Steinquaders.

Ein Bildhauer begutachtet eine moderne Epitaphiengestaltung.

Wie ein neues Epitaph ein altes überwölbt, ohne es zu verdecken, begeistert Grabmalberater Michael Gärtner.

„Wow, was für ein besonderer Friedhof! So etwas haben wir in Deutschland noch nie gesehen“ – auch technikaffine Schatzsucher sind vom Johannisfriedhof angetan, wie dieser Eintrag im digitalen Logbuch des dortigen Geocaches zeigt. Mithilfe eines GPS-(Global Positioning System)fähigen Smartphones und geographischer Koordinaten lösen Geocacher Aufgaben an sieben Stationen, zu denen etwa das Grab des Lokführers der ersten deutschen Eisenbahn, William Wilson, gehört. Die Lösungen führen sie zu einem versteckten Döschen mit einem kleinen „Schatz“ darin, der entnommen und gegen einen neuen ausgetauscht wird. Neben Trauer, Andacht und Geschichtsbewusstsein hat auch der Freizeitspaß seine Berechtigung auf dem Friedhof. 

Text: Alexandra Foghammar


Titelseite der Zeitschrift Nürnberg Heute

Nürnberg Heute

Dieser Text stammt aus der Zeitschrift „Nürnberg Heute“ Nr. 103/2017. Das Heft können Sie an den Auslegestellen kostenlos mitnehmen oder hier online lesen.


Online-Extra: Bilder aus Bronze erzählen Geschichte(n)

Die kunst- und sozialgeschichtlich aufschlussreichen Bronzeauflagen auf den Sandsteingräbern führen die Besucher nicht nur in frühere Jahrhunderte. Die Tradition der Epitaphien lebt – höchst individuell und top-modern.

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