1. Entwicklung des Stadtstaates
Werner Schultheiß *
* Die historische Einleitung zu den Loseblattausgaben des Stadtrechts wurde 1939 ("Die geschichtliche Entwicklung des Nürnberger Ortsrechts"), 1957 und 1972 ("Geschichte des Nürnberger Ortsrechts", 1. und 2. Auflage) von Archivdirektor Dr. jur. Werner Schultheiß besorgt. Sie ist für die Internet-Ausgabe der Jahrtausendwende von Stadtrechtsdirektor Dr. jur. utr. Hartmut Frommer durchgesehen und im Teil IV (seit 1806) neu bearbeitet worden.
Nach dem Zerfall des Imperiums Friedrichs II. war die Möglichkeit zu freierer Entfaltung gegeben. Tatsächlich tritt zu jener Zeit der Stadtrat zum ersten Male urkundlich auf. Dies bedeutet, dass die Bürgerschaft einen gewissen Grad von Selbstverwaltung besitzt und die politische Leitung der Gemeinde zu übernehmen beginnt. Doch führten zunächst Butigler und Schultheiß die bisherige Stadtherrschaft weiter, wenn auch diese und die "consules civitatis" gemeinsam in den Urkunden auftreten; später versuchten die Burggrafen von Nürnberg und die Herzöge von Baiern das Erbe der Staufer bzw. Konradins anzutreten. Doch vermochte Rudolf von Habsburg die Reichsunmittelbarkeit Nürnbergs wiederherzustellen. Allerdings mußte der König 1273 dem Zollern für dessen Wahlhilfe als Reichslehen den im Interregnum erworbenen Besitz des Reichslandgerichts Nürnberg bestätigen sowie einen Anteil an den königlichen Einkünften in der Stadt und am Stadtgericht einräumen. In den 80er Jahren gelingt es jedoch König und Stadt, den Einfluß des Burggrafen zurückzudrängen. 1287 bestätigt Rudolf nur allgemein die Freiheiten der Stadt. Um 1295-97 beginnt König Adolf von Nassau den Reichsbesitz um Nürnberg im "Reichssalbüchlein" aufzuzeichnen, das eine der wenigen Quellen zur Geschichte der Reichsverwaltung jener Zeit darstellt. 1301 benützt der energische Albrecht I. die Gelegenheit der Fürstenopposition, um den Wittelsbachern die Konradinische Erbschaft abzunehmen und aus diesen Gütern die Reichslandvogtei Nürnberg zu bilden. Nach seinem allzufrühen Tode erhalten die Herzöge von Baiern jene Besitzungen zurück. Das neugeschaffene Amt verliert seine ursprüngliche Bedeutung und geht um 1360 ein.
Unter diesen Umständen hatte es die Stadt schwer, Herrin innerhalb der Stadtmauern zu werden. Doch gewinnt die Gemeinde langsam, aber sicher an Boden und vermag im 14. Jahrhundert die wichtigsten Hoheitsrechte der Stadt in die Hand zu bekommen und den Burggrafen auszuschalten. Im Stadtprivileg Kaiser Heinrichs VII. von 1313 gelang es, den Reichsschultheißen durch Abnahme des Amtseides in Abhängigkeit vom Rat zu bringen und sich Autonomie in Polizei- und Marktsachen bestätigen zu lassen. 1323/4 verpfändete nun König Ludwig der Baier den Burggrafen von Nürnberg das Reichsschultheißenamt. Um Rechtssicherheit zu gewährleisten, ließ sich die Stadt 1320/23 eine konkurrierende Strafgerichtsbarkeit über landschädliche Leute verleihen. 1339 erwarb die Nürnberger Patrizierfamilie Groß das wichtige Schultheißenamt, mußte es aber 1365 an die Burggrafen abtreten. Erst 1385 glückte es der Stadt, diese wichtigen Hoheitsrechte samt Zoll auszulösen; in einem Weistum wurden die Befugnisse des Schultheißen festgehalten. 1386 wurden die Hofstattpfennige der Burggrafen abgelöst. Die u. a. mit den Burggrafen strittige zivile Gerichtsbarkeit über die ländlichen Hintersassen der bürgerlichen Eigenherren und geistlichen Korporationen übte seit 1340 fakultativ das Stadtgericht aus, von dem der Rat in der 2. Hälfte des 14. Jahrhunderts ein eigenes "Bauerngericht" abspaltete. Die Befreiung vom kaiserlichen Landgericht der Burggrafen (1431) blieb wegen der energischen Territorialpolitik der Burggrafen seit ihrer Erhebung in den Reichsfürstenstand (1361) wirkungslos; die Stadt mußte 1496 deren Gerichtsbarkeit außerhalb der Mauern anerkennen. Eine wichtige Abrundung der Souveränität bildete 1422/29 die für eine Handelsstadt wichtige Privilegierung mit der Prägung eigener (und gleichbleibend guter) Silber- und Goldmünzen, die das Reich vorher den Bürgerfamilien Groß und Valzner sowie den Burggrafen verpfändet hatte.
Hatten zunächst nur die Bürger Grundherrschaften und Halsgerichte in der Umgebung erworben, so ging nun die Reichsstadt - wohl aus den Erfahrungen des Städtekrieges von 1388 heraus - dazu über, das gleiche zu tun. Sie begann zunächst damit, sich die Festen der Bürger in der nächsten Umgebung als "offene Häuser" zu sichern und erwarb 1372/97 die Reichsforstämter des Lorenzer Waldes, um die Verwaltung des für sie lebenswichtigen Waldes in ihrem Sinne zu sichern.
Sie kaufte außerdem 1406 die Herrschaft Lichtenau, die sie aber drei Jahre später wieder an einen Bürger weitergab, endlich 1427 von den Zollern mit dem Amt der Veste und dem Reichsforstmeisteramt des Sebalder Waldes Herrschaftsrechte über die nächste Umgebung. Diese wurden aber gestört durch den Anspruch des Markgrafen auf die Fraisch (Blutgerichtsbarkeit) und die aus dieser abgeleiteten Landeshoheit. Diese Streitigkeiten veranlaßten Nürnberg im baierischen Erbfolgekrieg 1504-1506, nach dem Muster italienischer und schweizer Städte durch Erwerb ganzer Ämter mit Hochgericht ein geschlossenes Territorium zu bilden, das Nürnberg zum größten Stadtstaat Deutschlands machte. Dazu zählten die Städte und Ämter Altdorf, Lauf, Hersbruck, Velden, Betzenstein, Hiltpoltstein und Gräfenberg. Die Oberaufsicht lag beim 1513 errichteten Landpflegeamt. Doch gelang nicht das Gleiche für den unmittelbar um die Stadt liegenden "Bezirk zwischen den Grenzwassern". Wegen der Ausübung der Landeshoheit und der Kriminaljustiz in diesem Landstrich eröffnete Brandenburg gegen Nürnberg 1526 am Reichskammergericht den sogenannten Fraischprozeß, in dem die Reichsstadt faktisch unterlag, wenn auch die Klage bis 1806 formell nicht entschieden wurde.
Die ansehnliche Judengemeinde Nürnbergs war in den Jahren 1298 und 1348/49 schweren Pogromen ausgesetzt. Anstelle der zerstörten Synagoge wurde die Frauenkirche und des vernichteten Judenviertels Haupt- und Obstmarkt errichtet. Auch bei der (dann bis 1850 wirksamen) Vertreibung der Juden aus Nürnberg 1498/99 wurden Synagoge und Friedhof zerstört. Die letzte systematische Vernichtung jüdischer Mitbürger blieb unserer Zeit (ab der Pogromnacht vom 9./10. November 1938 bis zum letzten Transport nach Theresienstadt am 17.01.1944) vorbehalten.
Nach der Reformation, an deren Einführung die Juristen Lazarus Spengler, Willibald Pirckheimer und Christoph II. Scheurl maßgeblichen Anteil hatten, begann in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts der Stillstand der Reichsstadt. Ein letztes Mal stand sie nach dem Ende des Dreißigjährigen Krieges mit den Friedensexekutionskongreß 1649/50 im Mittelpunkt europäischer Diplomatie. Der Krieg, die verschiedenen Wirtschaftskrisen, die merkantilistische Politik der deutschen und europäischen Staaten sowie die zunehmende Verschuldung der Stadt führten in der Folgezeit den Niedergang Nürnbergs herbei. Seit dem Westfälischen Frieden hatte die Reichsstadt zwar offiziell Sitz und Stimme auf dem Reichstag, seit 1670 war sie auch stärker im Fränkischen Reichskreis tätig, aber die politische Rolle der Reichsstädte war ausgespielt und die Führung im Reich an die großen Landesfürsten übergegangen. Lange Zeit täuschte die kulturelle Bedeutung und die Zahlung der Reichsleistungen über den Verfall der Stadt hinweg.
Im Siebenjährigen Krieg und noch mehr in den Französischen Revolutionskriegen zeigte sich vollends die Ohnmacht der Reichsstadt. 1791/92 konnte daher Baiern einen Teil des Nürnberger Territoriums annektieren, den es 1504 verloren hatte. Als Preußen 1792 die Markgrafschaften Ansbach-Bayreuth erworben hatte, versuchte dessen Staatsminister Hardenberg ein geschlossenes Staatsgebiet in Franken zu bilden und okkupierte am 4. Juli 1796 den seit dem Fraischprozeß strittigen Bezirk. Unter dem Druck einer französischen Besetzung mit ihren furchtbaren Lasten unterwarf sich die Bürgerschaft nach einer Abstimmung Preußen - auch um sich die Neutralität im Kriege zu erkaufen. Doch billigte der preußische König diesen Subjektionsvertrag aus Furcht vor Kaiser, Frankreich und Rußland nicht, duldete aber die Besetzung des Nürnberger Gebietes. Damals wurde das "Allgemeine Landrecht für die Preussischen Staaten" in den Vorstädten Gostenhof und Wöhrd und den übrigen Vororten eingeführt. Der Reichsdeputationshauptschluß von 1802 sanktionierte noch einmal die Reichsunmittelbarkeit Nürnbergs, aber es war eine Frage der Zeit, ob die ohnmächtig und schutzlos gewordene Reichsstadt Preußen oder Baiern zufallen würde.
Am 12. Juli 1806 wurde durch deutsche Fürsten der mit Frankreich verbündete Rheinbund geschlossen, der das alte Reich sprengte. In der Rheinbundakte wurde nach dem Willen Napoleons Nürnberg dem Königreich Bayern zugesprochen. Nachdem am 8. August Franz I. die deutsche Kaiserkrone niedergelegt und damit das Reich aufgelöst hatte, wurde Nürnberg ein souveräner Staat, der sich nun freiwillig unter günstigen Bedingungen seinem mächtigen Nachbarn unterwerfen wollte.
Doch besaß es nicht mehr die Kraft, diesen Plan zu verwirklichen und seinen Bürger J. Palm, der eine Streitschrift gegen Napoleon verlegt hatte, vor der Verurteilung zum Tode durch ein französisches Standgericht zu schützen. Französische Besatzungstruppen sicherten den Übergang der Stadt an Bayern, das am 15. September 1806 offiziell Besitz von ihr ergriff.