Werner Schultheiß *
* Die historische Einleitung zu den Loseblattausgaben des Stadtrechts wurde 1939 ("Die geschichtliche Entwicklung des Nürnberger Ortsrechts"), 1957 und 1972 ("Geschichte des Nürnberger Ortsrechts", 1. und 2. Auflage) von Archivdirektor Dr. jur. Werner Schultheiß besorgt. Sie ist für die Internet-Ausgabe der Jahrtausendwende von Stadtrechtsdirektor Dr. jur. utr. Hartmut Frommer durchgesehen und im Teil IV (seit 1806) neu bearbeitet worden.
Im Streit Kaiser Heinrichs IV. mit seinem aufrührerischen Sohn gleichen Namens und in den Kämpfen Kaiser Lothars mit den Staufern um das Erbe des letzten Herrschers aus salischem Geschlecht bildete Nürnberg den Schlüssel zu Reichsgut und Macht in jenem Gebiet, das zwischen den beiden personell verbundenen Herzogtümern Sachsen und Baiern gelegen war. Aus dieser Erfahrung heraus begann - nach mühsam erzwungener Unterwerfung Herzog Heinrichs von Baiern - König Konrad III., der sich erst eine entsprechende Hausmacht schaffen mußte, eine vielseitige Territorialpolitik im strategisch wichtigen Ostfranken bzw. Nordgau zu betreiben, wie er es ebenfalls in Ostsachsen und in Rheinfranken tat. Auch hier errichtete er eine Burggrafschaft, die er als Lehen den bisher hier tätig gewesenen Edelfreien von Raabs übertrug. Dieses Amt darf nicht allein als militärisches Kommando über die Burg und die zu ihr gehörigen Ministerialen betrachtet werden, sondern vielmehr als „Stadtgrafschaft", die Gericht und Verwaltung der neugegründeten Stadt und des umliegenden Reichsguts zwischen den Grenzwassern sowie das aus Funden seit etwa 1140 belegbare Münzrecht umfaßte. Wahrscheinlich kurz nach seinem Regierungsantritt begann er während seiner Aufenthalte 1138-42 das eben den Welfen abgenommene Nürnberg zum festen Stützpunkt gegen Baiern auszubauen.
In jener Zeit dürfte der Staufer den Grund zur umfangreichen Doppelstadt auf beiden Ufern der Pegnitz in Nürnberg gelegt haben, die über 100 Jahre des Ausreifens bedurfte. Damals erweiterte sich der Burgmarkt bis an die Pegnitz, wahrscheinlich auch um das 1147 errichtete Judenviertel und die neue Siedlung, die sich an das aus dem Königshof gegründete und mit Reichsgut in der Stadt dotierte Schottenkloster St. Egidien anschloß. Zum Schutz der Sebalder (Nord-)Stadt legte wahrscheinlich Konrad III. auf dem südlichen Hochufer in Anlehnung an den Königshof bei St. Jakob die Lorenzer(Süd-)Stadt an. 1488 berichtet der Humanist Sigmund Meisterlein in der von ihm verfaßten Stadtchronik von der Errichtung der "nova civitatis" durch jenen Herrscher. Ihr auffälliger Grund- und Umriß (Parallelstraßenmärkte und eirunde Form) kennzeichnet sie als typische Gründungsstadt des 12. Jahrhunderts. Nürnberg war offenbar der Auftakt zu den staufischen Stadtgründungen in Nordbaiern wie in Ostsachsen. Diese "burgi", wie auch Nürnberg 1163 bezeichnet wird, weisen eine charakteristische Verfassung auf, in der zu alten Rechtsformen neue treten. Für jene ist zunächst eine aus Grund-, Markt- und Gerichtsherrschaft sich zusammensetzende Stadtherrschaft typisch, die durch einen Beamten des Königs ausgeübt wird. Dies war anfangs der Burggraf, ab etwa 1192 der Schultheiß, wie aus dem Weistum über dessen ausgedehnte Befugnisse von 1385 zu ersehen ist.
Auch die auf Eidgenossenschaft beruhenden Gründungsstädte Nord- und Ostdeutschlands stehen, wie z. B. Lübeck, unter einem stadtherrlichen Beamten, doch erhält in ihnen das meist aus Fernhändlern bestehende "Gründerkonsortium" infolge seiner maßgeblichen Mitwirkung bei Errichtung der Siedlung ausgedehnte Freiheiten in persönlicher, wirtschaftlicher und politischer Hinsicht, vor allem Selbstverwaltung. Muster waren dabei jene Kaufmannssiedlungen Flanderns und Burgunds, die bereits Ende des 11. Jahrhunderts den ständigen täglichen Markt der Fernhändler ermöglichten, und das nach ihrem und Kölns Vorbild 1120 gegründete Freiburg im Breisgau. Mit den Zähringerstädten hob eine neue Epoche der kommunalen Verfassungsgeschichte Deutschlands an. Den seit etwa 1140 errichteten Stauferstädten mangelt dagegen noch die förmliche Selbstverwaltung. Doch erhalten sie, um die Siedler für die weiträumigen Planungen zu gewinnen, weiter als bisher gehende, persönliche und wirtschaftliche Vorzugsrechte, die das schnelle Wachstum der Städte sichern. In der Lorenzerstadt werden die Hofstätten in freier Erbleihe gegen den geringen Jahreszins von zwei Silberpfennigen ausgetan. Die Zuziehenden werden in den Königsschutz als Bürger aufgenommen, für sie gilt also der berühmte Satz "Stadtluft macht frei", wie das sich auf dieses Nürnberger Vorrecht beziehende Lenkersheimer Stadtprivileg von 1200 erschließen läßt. An das alte "Hofrecht" erinnern nur noch die Schnitterdienste der Lorenzer Seite, an den Marktbann der jährliche Schilling der Schmieden (fabrica), die 1273 dem Burggrafen bestätigt werden.
Der häufige Aufenthalt der Herrscher und die Erbauung einer repräsentativen Burg (1183 "palacium" genannt) durch die Staufer mit der für Hofkapellen typischen Doppelgeschossigkeit, verleihen Nürnberg den Charakter einer "Pfalz". Deshalb genießen deren Kaufleute zur wohlfeilen Versorgung des Hofes Zoll- und Geleitsfreiheit im ganzen Reich. Dieses Recht, das den übrigen ostfränkischen Reichsstädten fehlt und nur einzelnen verliehen wird, wird 1163 zum ersten Male erwähnt, als sich der Bischof von Bamberg dieses Privileg für seine Kaufleute in Bamberg und Amberg erteilen läßt, damit sie konkurrenzfähig bleiben. Die unter Königsschutz stehenden Kaufleute sind Kristallisationskern und die Entwicklung vorwärtstreibendes Element des gemeindlichen Lebens. Von einem genossenschaftlichen Zusammenschluß der Kaufleute zu einer "Hanse", für die z. B. im Regensburg des 12. Jahrhunderts ein Hansegraf bestellt wird, findet sich in Nürnberg auch aus späterer Zeit kein Anhaltspunkt. Ein Zeichen für die wachsende wirtschaftliche Bedeutung Nürnbergs ist auch die bereits erwähnte Ansiedlung der aus dem Rheinland vertriebenen Juden (1147).
Die Zuweisung Nürnbergs an den ritterlich gesinnten Herzog Friedrich von Rothenburg, den Sohn Konrads III. (1157-1167), verzögerte für kurze Zeit wahrscheinlich die freiere Entfaltung dieser Frühform einer "Stadt". Die großzügige Territorialpolitik Friedrichs I., die sich von Schwaben über den Nordgau und Eger bis nach Ostsachsen. erstreckte, umgab Nürnberg mit umfangreichem Reichsgut. Unter dem Druck der Spannungen mit Herzog Heinrich dem Löwen vervollständigte wohl Barbarossa die provisorischen Befestigungen mit Wall und Graben Nürnbergs wie der "burgi" an der schwäbisch-baierischen Grenze. Als um 1190 die Raabser Familie im Mannesstamme ausstarb, benützte Heinrich VI. die Gelegenheit, um dem Schwiegersohn des letzten Raabsers, Friedrich von Zollern, nur eine auf das militärische Amt beschränkte Burggrafschaft zu verleihen; die Verwaltung des inzwischen stark vermehrten Reichsguts und das Landgericht erhielt seitdem ein eigener Beamter, der 1200 "maior inter officiatos", 1213 „provisor" und seit 1220 „Butigler" genannt wurde. Die Leitung und das Hochgericht der Stadt versah aber seit etwa 1190 wie in den übrigen Stauferstädten selbständig der schon um 1173 als Marktrichter auftretende Schultheiß. Als die Staufer im Thronstreit mit Otto IV. viel Reichsgut den Reichsministerialen opfern mußten, wurden die Städte der letzte Halt ihres erst in den Anfängen steckenden "Staates". Damit war ein wichtiger Schritt der Verselbständigung der Gemeinde getan. Nicht ohne Grund erhebt im Jahre 1200 Philipp von Schwaben Lenkersheim zur Stadt, die nun einen viereckigen Grundriß zeigte, und erteilt ihm das einzige Gründungsprivileg einer Königsstadt mindestens in Ostfranken. Es ist auch kein Zufall, dass auf Bitte der "ministeriales" und "cives" von Nürnberg Otto IV. 1209/12 die Königskapelle St. Jakob "in civitate Nuerenberg" dem Deutschen Orden schenkt. Gelingt anderen Städten damals schon die Anerkennung eines Stadtrats als des Organs der Bürgerschaft, so läßt sich bei Nürnberg in Urkunden ein Gleiches nicht feststellen.
Von Friedrich II., der aus seinem normannisch-sizilischen Obrigkeitsstaat kam, konnte eine königseigene Stadt wie Nürnberg keine großzügige Förderung ihres kommunalen Lebens erwarten, nachdem er die Macht in Deutschland errungen hatte. So erwähnt zwar das berühmte Stadtprivileg vom 8. November 1219 alte, von seinen Vorgängern gewährte Freiheiten, doch werden sie mit einer Ausnahme nicht aufgezählt. Jenes wichtige Dokument stellt also mehr die Bestätigung des um 1192 geschaffenen Zustandes, die Beilegung schwebender Fragen als die Verleihung neuer grundlegender Freiheiten dar. Nach dieser Urkunde soll jeder Bürger nur den König als alleinigen Schutzherrn (advocatus) haben. Dadurch wird die Bildung eines Gerichts- und Friedensbezirks sowie einer Gemeinde der von persönlichen Bildungen befreiten und untereinander gleichberechtigten Bürger gesichert. Darin wird auch das von seinen Amtsvorgängern verliehene Recht bestätigt, dass die Reichssteuer nicht vom einzelnen Bürger, sondern als Gesamtsumme geleistet wird, die nun nach dem Vermögen des Bürgers erhoben wird; damit wird die Gesamtpersönlichkeit der "civitas" anerkannt und eine gewisse Selbstverwaltung bei Einforderung der Steuer vorausgesetzt. In der Hauptsache wird das ständische Vorzugsrecht der Kaufleute erläutert. Die Zollfreiheit der Nürnberger wird nur für einzelne Orte und für den Eigenbedarf anläßlich von Hoftagen bestätigt.
Die volle Selbstverwaltung im heutigen Sinne erreichte aber Nürnberg erst während und nach dem Ende des Kampfes der Staufer mit dem Papst um die Macht. Wie stark zunächst die Stadtherrschaft ausgeübt wurde, zeigt 1245 die Bestellung eines eigenen "Pflegers" für das hiesige Franziskanerkloster. Offenbar ab 1240 werden Nürnberg stillschweigend gestattet die Bildung eines Stadtrats (consules) als Organ der Bürgerschaft und die Führung eines Stadtsiegels, das in seinem eigenartigen Wappenbild, dem ReichsadIer mit dem gekrönten Königskopf, vor allem die Stadtherrschaft des Königs symbolisiert. In jenen stürmischen Zeiten beginnt Nürnberg mit dem kostspieligen Bau von Mauern und Tortürmen. Konrad Waldstromer (+ 1266), Stifter des um 1224 errichteten Franziskanerklosters Nürnberg, wird in dessen Totenkalender als "senator Friderici II. imperatoris" bezeichnet. Während des Thronstreits und des Interregnums vermag der Burggraf in den Besitz des Reichslandgerichts und des Königshofes zu gelangen. Bezeichnend für Nürnberg wie für manche andere Reichsstadt, z. B. Weißenburg i. B., ist die Tatsache, dass zwar nach der Auflösung des Königshofs eine Stadtflur gebildet, aber kein eigener Teil für die Gemeinde aus dem Reichsforst ausgeschieden werden kann; an diesem bestehen fortan nur Nutzungsrechte der Bürger und der den Forst umgebenden Dörfer. Aber erst nach dem Zusammenbruch des staufischen Imperiums wird das aktive Handeln der "consules" sichtbar, als sich Nürnberg dem Rheinischen Städtebund von 1254 zur Wahrung des Landfriedens und der Sicherung des Handels anschließt und 1256 Regensburg zum Beitritt beglückwünscht. Bezeichnend für Wirtschaftskraft und Selbstbewußtsein der Bürger ist die Tatsache, dass für die zunächst zwei eigene Siedlungen darstellenden Stadtteile die Kapelle St. Lorenz oder zum Heiligen Grab (zum ersten Male 1235 erwähnt) und die Sebalduskirche (1255 zufällig genannt) als spätromanische Basiliken größeren Ausmaßes aus eigenen Mitteln erbaut werden.
Die präkommunale Verfassung des "burgus" und der "civitas" der Staufer im 12./13. Jahrhundert kann u. a. aus dem Weistum über das hiesige Reichsschultheißenamt von 1385 rekonstruiert werden. Danach übt dieser Beamte nicht nur Vorsitz und Exekutive des Stadtgerichts, sondern auch die Friedens- und Marktpolizei aus, wofür er von den auf dem Markt bzw. öffentlich verkaufenden Gewerben jährliche Reichnisse bezieht.
Dreimal im Jahr hält er Rügegericht über die Bäcker, einmal über die Fleischer. Noch nach dem Satzungsbuch Ill von 1320 beziehen Schultheiß und Schöffen Gebühren von den Neubürgern. Aus dieser Bestimmung und aus der Mitwirkung der Schöffen bei der kommunalen Gesetzgebung läßt sich erschließen, dass Schultheiß und Schöffen wie in den meisten Altstädten ursprünglich die gemeindliche Verwaltung besorgt haben und dass die Schöffen die Vorläufer der "Ratgeben" gewesen sind. Noch 1293 verleiht der König das Weinladen oder Weinschroten als Amtslehen. Im Interregnum werden das Oberforstmeister- und Forstmeisteramt des Lorenzer Reichswaldes sichtbar; 1273 bestätigt der König dem zollerischen Burggrafen als Lehen das Forstmeisteramt im Sebalder Reichswald.
Schritt- und stufenweise wurden also die Verfassung und das Recht der Stadt entwickelt, ja fast dem Stadtherrn abgerungen. Die staufische Stadt ist demgemäß eine eigenartige Frühform der Bürgersiedlung, die infolge der noch stärkeren Herrschaft des Königs und seiner Beamten einen gewissen Gegensatz zu den nord- und ostdeutschen Kolonisationsstädten mit Selbstverwaltung und Rat im Stile Lübecks darstellt. Dieser ältere Stadttypus stellt noch eine ständische Mischung dar zwischen den zu Burg (Pfalz) und Königshöfen gehörigen Dienstmannen und Hörigen sowie der tonangebenden Personalgemeinde von freien Händlern und Handwerkern, die dem Marktgericht unterstehen und gemeinsam eine selbständig aufgebrachte Steuer zahlen. Die Aufgabe dieser "burgi" und "civitates" liegt darin, an Stelle der Dienstmannenburgen wirtschaftliche und verwaltungsmäßige Mittelpunkte von bestimmten Bezirken zu sein und unter Umständen neben einer Burg als "Festungen" dem Territorium einen verstärkten Schutz zu verleihen.