2. Entfaltung der reichsstädtischen Verfassung und Verwaltung
Werner Schultheiß *
* Die historische Einleitung zu den Loseblattausgaben des Stadtrechts wurde 1939 ("Die geschichtliche Entwicklung des Nürnberger Ortsrechts"), 1957 und 1972 ("Geschichte des Nürnberger Ortsrechts", 1. und 2. Auflage) von Archivdirektor Dr. jur. Werner Schultheiß besorgt. Sie ist für die Internet-Ausgabe der Jahrtausendwende von Stadtrechtsdirektor Dr. jur. utr. Hartmut Frommer durchgesehen und im Teil IV (seit 1806) neu bearbeitet worden.
Die Entfaltung der Stadtverfassung zeichnet sich seit Ende des 13. Jahrhunderts wegen der sich auffällig mehrenden Schriftquellen in großen Zügen ab, läßt sich aber wegen des unglücklichen Verlustes vieler und aufschlußreicher Amtsbücher des 14. Jahrhunderts in Einzelheiten nicht mit letzter Sicherheit klären. Zunächst drängt der Rat als Organ der Bürgerschaft den vom König bestellten Schultheißen und die Schöffen als bisherige Träger von Gericht und Verwaltung zurück. Doch findet kein Kampf zwischen den zwei Interessengruppen statt, da beide die gleiche Oberschicht von "viri honesti" bilden, die die Ausweitung der bürgerlichen Machtsphäre erstrebt. Ein nur aus Nürnberg überlieferter Nachtrag zum hier verkündeten Reichslandfrieden von 1298 erlaubt den Städten, selbstständig Satzungen zu erlassen, die allerdings dem Reich und den Stadtherren nicht abträglich sein dürfen. Auf Grund dieser Vergünstigung zeichnete der Rat, als der König 1301 einen Reichslandvogt und einen aus dem Landadel stammenden Reichsschultheiß eingesetzt hatte, erstmals das Gewohnheitsrecht der Stadt auf, um offenbar diesen neuen Beamten die bestehenden Normen zu weisen. Dieses Satzungsbuch I stellt keine umfassende Kodifikation dar, sondern nur die wichtigsten Regelungen der Markt- und Friedenspolizei sowie aktuelle Bestimmungen des Verfassungs-, Verfahrens-, Straf- und Privatrechts zusammen, ergänzt diese bis etwa 1310 auf 109 Artikel und enthält außerdem noch eine Neubürgerliste von 1302 bis 1314. Was die Bürger bisher erstrebt hatten, bestätigt ihnen das Reichsoberhaupt in einem Privileg von 1313. Dieses veranlaßt wohl die Anlage des zum größten Teil verlorenen Satzungsbuchs II, das zugleich als Memorial- und Neubürgerbuch (1314-31) dient. Auffällig ist, dass die Stadt bereits 1320/3 und 1332/5 die repräsentativer geschriebene Neuauflage III (259 Artikel) und IV (z. T. abhandengekommen, Neubürgerliste 1330/5 nur als Auszug überliefert) veranstaltet. Das ebenfalls verstümmelte Satzungsbuch V von 1380 - ca. 1420 behandelt vor allem neu hinzugekommene Aufgaben.
Erst aus den seit 1319/1332 erhaltenen Rats- und Schöffenlisten läßt sich erschließen, dass beide, je 13 Sitze zählenden Kollegien bis 1348 von etwa 30 Geschlechtern besetzt werden, die schon im 16. Jh. als Patriziat bezeichnet werden. Die gleichen Namen kehren unter den "fide digni" und "viri prudentes" wieder, die als Zeugen in den während des 13. Jh. hier ausgestellten Gerichts- und Privaturkunden und in den seit 1317 auftretenden Listen der „Genannten" (nominati) auftreten.
Dieses Amt wird hier erstmals 1276 und zu Beginn des 13. Jahrhunderts in Regensburg und Wien sowie später in den vom Nürnberger Recht beeinflußten Städten Eger, Rothenburg und Neumarkt/OPf., außerdem in Bamberg erwähnt. Ursprünglich sind offenbar unbescholtene und angesehene Bürger als Eidhelfer und Gerichtszeugen bestellt worden; nach einer Ordnung von etwa 1320 werden sie zu wichtigen Gesetzgebungen und Ratsbeschlüssen zugezogen und entwickeln sich dadurch später zum "Größeren Rat", der zahlenmäßig nicht beschränkt ist. Zwischen 1294 und etwa 1350 werden gelegentlich noch "Geschworene" (iurati) erwähnt Diese dürften mit den "Genannten" identisch sein oder alle Personen erfassen, die wegen der Ausübung eines kommunalen Amtes einen Eid ablegen mußten.
Aus dieser größeren Schicht der "ehrbaren Genannten" hebt sich ein engerer Kreis von Geschlechtern heraus, die Rats- und Schöffenbank fast ausschließlich besetzen, weil sie dank Kenntnissen und Wohlstand diese nur durch Gebühren entlohnten Ämter einnehmen konnten. Den Grundstock jener Geschlechter bilden nach Karl Hegel Dienstmannen, die nach dem Zusammenbruch des staufischen Imperiums das Bürgerrecht erworben haben. Auf diese Weise setzt sich die staufische Stadtherrschaft im aristokratisch-obrigkeitlichen Stadtregiment der Folgezeit fort. Ihre bei der Verwaltung des Reichs sowie ihrer Lehen-, Dienst- und Eigengüter erworbenen ökonomischen Kenntnisse wenden sie nun in einer wirtschaftlichen Tätigkeit auf eigenes Risiko an. Von solchem Warenhandel und Geldgeschäften berichtet das Schuldkontobuch der TuchhandelsgeseIIschaft der Nürnberger Holzschuher von 1304/7, das übrigens das erste vollständig erhaltene Kaufmannsbuch Deutschlands ist.
Da die Stadt eine fakultative Kriminalgerichtsbarkeit mit eigenem Richter erhielt und die Schöffen deshalb nun im Namen der Kommune Recht sprachen, dürften sich 1320/3 die scabini mit den consules zum „Inneren Rat" verschmolzen haben. Die Geschäftsleitung oblag ursprünglich einem "Frager". Nach dem Satzungsbuch I bestellte die Stadt Schreiber, Büttel, Nachrichter und Marktmeister, später noch Pfleger für Kirchen, Klöster und Spitäler. Zahlreiche Bürger waren beauftragt, als "Schauer" für die Kontrolle von Qualität, Menge und Preis der feilgebotenen Produkte zu sorgen (1357: 54 Kommissionen). Für Einhebung und Verwaltung der Bürgersteuer sorgten die "Losunger". Mit besonderen Aufgaben (Bauten, Unterhaltung von Wegen und Stegen) wurden einzelne Ratsherren und Bürger betraut. Aus solchen Daueraufträgen entwickelten sich Losungs-, Bau- oder Zinsmeisteramt sowie "Fünfer(polizei)gericht", aus dem Erwerb von Hoheitsrechten Zoll- und Waldamt. Am Ende des 15. Jahrhunderts hatten sich etwa 25 solcher Sonderbehörden vom Rat abgespalten.
Da sich im 14. Jahrhundert die Schriftlichkeit in der Verwaltung durchsetzt, können wir die Ausbildung der Behörden am Auftreten von Buchreihen und Akten verfolgen. Doch sind gerade in dieser Hinsicht besonders schwere Verluste an Unterlagen festzustellen. Da nach 1349 alle Handwerksmeister Bürger werden müssen, werden 1363 und 1370 nach Berufen gegliederte Meisterlisten angelegt, die als die ersten Gewerbestatistiken Deutschlands gelten. Ab 1382 werden in auf Papier geschriebenen Listen die Bürger der Vorstädte bzw. die Handwerksmeister und für kurze Zeit die Taglöhner ohne Bürgerrecht vermerkt. Von den Steuerlisten, die nicht den gezahlten Betrag angeben, sind erhalten ein Fragment von 1307/9 in Gestalt eines großformatigen Blattes und außer Erwähnungen von Jahrgängen ab 1360 solche von 1392 bis 1440 und um 1496. Stadtrechnungen wurden seit 1340 geführt, sind aber erst ab 1377 überliefert und zwar als Manuale und gleichzeitige Reinschriften. Außerdem finden sich noch Privilegienbücher (1340 ff.), Ämterlisten (1357 ff.), Kopial- und Briefbücher (1363 ff., 1404 ff.) und vor allem die Aufzeichnungen der wichtigen Ratsbeschlüsse und zwar Reinschriften von wichtigen Verlässen 1400 ff. und gleichzeitig geführte Protokolle 1449 ff. und 1474 ff. sowie Sal- und Zinsbücher. Die frühe und vielfältige Anwendung der Statistik ist vermutlich durch Italien vermittelt. Hervorzuheben ist die bekannte Volkszählung anläßlich des Markgrafenkrieges von 1449.
Mit dem Bau des neuen und repräsentativen Rathauses (1332-40) dokumentierte der Rat seine neue Position. Der große Saal war für die Abhaltung des Stadtgerichts und des "Größeren Rats", von Ratsfesten und Reichsversammlungen geschaffen.
Gemeinnützigen Zwecken dienten das Fleisch-, Brot- bzw. Tuch-, Schuh-, Salz-, Pleiden- oder Zeughaus, zahlreiche Kornspeicher und eigene Mühlen, außerdem Stadtwaage, Eiche sowie kommunale Regiebetriebe wie Münze, Wechsel, Silberschmelze, Marstall, Ziegelei und Steinbrüche.
Der autokratisch regierende Rat verbot bereits 1302 selbständige "Einungen" der Handwerker und untersagte am Ende des 14. Jahrhunderts sogar Zusammenschlüsse der Patrizier zu eigenen Trinkstuben. Die deshalb unzufriedene Bürgerschaft stürzte 1348 im Thronstreit nach Kaiser Ludwigs Tod den rein patrizischen Rat, der sich dem offiziellen König Karl (IV.) angeschlossen hatte, und wählte einen hauptsächlich aus Bürgern und Handwerkern gebildeten Rat. Wenn nun auch Zünfte geduldet wurden, so waren sie doch nicht förmlich im Rat wie in den schwäbischen Reichsstädten vertreten; damals wird auch einmal ein "Äußerer Rat" erwähnt. Doch mußte sich Nürnberg bereits 1349 dem Reichsoberhaupt unterwerfen, das den alten Rat wiederherstellte. Seitdem blieb die ausschließliche Herrschaft des Patriziats bis zum Ende des 18. Jahrhunderts aufrechterhalten. Die Handwerksverbände entbehrten auch weiterhin der Autonomie und Gerichtsbarkeit, die der Rat ausübte. Die Überwachung lag zunächst beim "Pfänder", ab 1490 beim "Rugamt". Offenbar unter dem Eindruck der Augsburger Zunftrevolution von 1368 berief der Rat noch acht Handwerker (einen als 3. Losunger zur Kontrolle der zwei patrizischen Losunger), die bald von aktiver Mitarbeit ausgeschlossen werden, und als Gegengewicht acht "Genannte" aus den Geschlechtern in sein Kollegium. Die damals gespannte Atmosphäre geht auch aus dem Erlaß einer Ordnung für die "drei obersten Hauptleute" von 1370 für den Kriegs- und Notfall (Aufruhr) hervor.
Wegen des Städtekrieges von 1388/89 wurde eine tägliche Fünferkommission gebildet. 1390 wurde ein Ausschuß von drei Ratsmitgliedern geschaffen, der die wichtigeren Geschäfte und die Leitung besorgen sollte. Ab 1392 werden die 2 geschäftsführenden „Frager" dauernd als "Bürgermeister" bezeichnet. Seit 1402 übernehmen die beiden Losunger, die ursprünglich nur die Steuer- oder Finanzverwalter waren, die oberste Leitung der Stadt. Am Anfang des 15. Jahrhunderts hatte sich also die Organisationsform des Rates gebildet, die bis zum Ende der Reichsstadt andauerte. Beim „Inneren Rat" mit seinen 42 Mitgliedern liegt die eigentliche Herrschaftsgewalt der Reichsstadt. Neben ihm besteht der "Größere Rat" der Genannten, in den zuletzt bis zu 300 Honoratioren der Bürgerschaft berufen werden und dem nur die wichtigsten Entscheidungen zur Kenntnisnahme vorgelegt wurden. Die laufende Geschäftsführung besorgten für je vier Wochen ein älterer Bürgermeister (consul) und ein jüngerer Bürgermeister (scabinus). Aus dem Kollegium dieser 26 Ratsherren wurden die erfahrensten und tüchtigsten seit Anfang des 15. Jahrhunderts als die "sieben älteren Herren" (Geheimer Rat), aus jenen wieder die drei obersten Hauptleute, aus diesen wieder die zwei "Losunger" als die beiden obersten Regenten gewählt.
Diese einer Pyramide gleichende Verfassung erinnert in gewissem Sinne an die Venedigs. Trotz ihres aristokratischen Gepräges behält sie noch demokratische Züge: die kollegiale Beratung, die auf gegenseitige Kontrolle abgestellte Doppelbesetzung des Bürgermeister- und Losungeramts und das allmähliche Aufsteigen der Tüchtigsten zu den leitenden Stellen. Im 15. Jahrhundert wurden ca. 40 neue ehrbare Familien in den Rat gewählt und in das Patriziat aufgenommen, wenn sie als zweite Generation ihre allgemeine Befähigung im Großhandel bewiesen und eine entsprechende soziale Stellung erworben hatten.
Im "Tanzstatut" von 1521 bestimmte der Rat, wer zum Tanz auf dem Rathaus zugelassen wurde und wer daher zu den ratsfähigen Geschlechtern gehörte. Nach der Aufnahme der Schlüsselfelder 1536 schloß sich das Patriziat zum Geburtsstand ab. 1696 ließ sich das Patriziat vom Kaiser die Ratsherrschaft und das Recht, neue Familien zu kooptieren, bestätigen. Die geschilderte Rats- und Gewerbeverfassung wurde Modell für die südostdeutschen Städte, während sich in den schwäbischen meistens die "zünftische", d. h. mehr demokratische Stadtverfassung, durchsetzte.
Ebenfalls sehr früh, und zwar unmittelbar nach der Mitte des 14. Jahrhunderts, tritt offenbar gemäß dem Vorbild Ulms in Nürnberg der Jurist als Berater der Stadt auf. Der 1323-55 tätige Protonotar Friedrich von Feuchtwangen war "magister artium", sein Stellvertreter Herdegen Geistlicher und kaiserlicher Notar. Im 14. Jahrhundert werden mehrere Geistliche, im 15. Jh. jedoch wieder Laien zum Stadtschreiber bestellt. Zunächst wird um 1355 von einem besoldeten Prokurator am geistlichen Gericht zu Bamberg berichtet. Aus der Zeit kurz nach 1363 ist ein Dienstvertrag erhalten, in dem die Pflichten und Rechte des Stadtschreibers bzw. "Juristen" festgelegt werden. Die Stadt läßt sogar auf eigene Kosten einen Mann in Padua Jurisprudenz studieren und verpflichtet diesen 1370 zur Anschaffung bestimmter juristischer Werke. Damit kann Nürnberg die früheste Stadtbibliothek Deutschlands für sich in Anspruch nehmen. Die Stadtrechnungen von 1377 weisen die Besoldung mehrerer Juristen auf, die später Ratskonsulenten genannt wurden. Seit 1443 sind deren Gutachten in meistens lateinisch abgefaßten "Ratschlagbüchern" erhalten, die noch eine unausgebeutete Fundgrube für die Erforschung des römisch-kanonischen Rechts in Deutschland darstellen. Jedenfalls veranlaßten im 14. Jahrhundert die ständigen Verhandlungen mit König und Reichsständen, die Territorialstreitigkeiten mit den Burggrafen und die Vertretung der Bürger vor dem geistlichen Gericht Nürnberg dazu, die Dienste von Männern in Anspruch zu nehmen, die - wie Willibald Pirckheimer - in Italien Rechtswissenschaft studiert hatten und mit römischem und kanonischem Recht vertraut waren.
Die amtliche Verkündung von Rechtsvorschriften geschah ursprünglich durch Vorlesen von den Kirchenkanzeln und auf öffentlichen Plätzen; jährlich wurde das Stadt- und Wandelbuch nicht nur im Rat revidiert, sondern auch der Bürgerschaft vorgelesen, wie aus den Randvermerken "Lies" oder "Schweig" zu ersehen ist. Um 1480 ging der Rat dazu über, wichtige Anordnungen durch die damals erfundene Druckerkunst bekanntzumachen, wie z. B. 1492 sanitäre Empfehlungen anläßlich einer Pest. Seit etwa 1520 wurden sie in der Form von "Mandaten" regelmäßig gedruckt.