III. Die Reichsstadt (1254/72 bis 1806)

6. Die Stadtrechtsreformationen von 1479/84 bis 1564

Werner Schultheiß *

* Die historische Einleitung zu den Loseblattausgaben des Stadtrechts wurde 1939 ("Die geschichtliche Entwicklung des Nürnberger Ortsrechts"), 1957 und 1972 ("Geschichte des Nürnberger Ortsrechts", 1. und 2. Auflage) von Archivdirektor Dr. jur. Werner Schultheiß besorgt. Sie ist für die Internet-Ausgabe der Jahrtausendwende von Stadtrechtsdirektor Dr. jur. utr. Hartmut Frommer durchgesehen und im Teil IV (seit 1806) neu bearbeitet worden.



Der unmittelbare Anlaß zur Rezeption war die notwendige Angleichung an die 1471 erlassene Ordnung des kaiserlichen Kammergerichts, die bereits auf römisch-kanonischem Recht fußte. Nürnberg setzte deswegen eine Kommission ein, die aber die Reformbedürftigkeit auch des gesamten Privatrechts feststellte. Der weitsichtige Rat beschloß daher, eine umfassende Kodifikation zu schaffen und konnte nach einigen Jahren emsiger Arbeit "Die Gesetze der Newen Reformation der Stat Nuremberg 1479 furgenomen" verkünden.

Die Stadtrechtsreformation von 1479 zeichnete sich vor allem dadurch aus, dass sie erstmals Verfahrens- und Privatrecht zusammenfassend kodifizierte und das alte Recht durch römisch-gemeine Normen zu ergänzen und zu modernisieren versuchte. Römisches Recht herrscht vor im Prozeß (Titel 1-12), im Schuldrecht (Tit. 22-27) und im Erb- und Testamentsrecht (Tit. 12-22 mit Ausnahme der deutschrechtlichen Testamentsvollstrecker).


Titelblatt der Nürnberger Rechtsreformation 1484

Überwiegend deutschrechtlich blieben Sachenrecht (Tit. 23-28), Bauordnung (Tit. 35) und eheliches Güterrecht (Tit. 12-13 ff.). Eingehend wurden nun die Rechtsfolgen der "unverdingten" (gesetzlichen) und "verdingten" Ehe hinsichtlich des Güterrechts bei „beerbtem" oder "unbeerbtem" (kinderlosem) Fall geschildert; bei einer Zweitehe war eine Art Errungenschaftsgemeinschaft möglich. Früh entwickelte Nürnberg den Schutz geistigen Eigentums (Dürers Monogramm 1512!), Verlagsverträge, Privilegien für Erfindungen und eine Vorzensur für Flugblätter und Bücher.

Diese bemerkenswerte Zurückhaltung in der Rezeption des römischen Rechts, die gegenüber der fast vollständig romanistischen Wormser Reformation von 1499 auffällt, läßt sich auf die Redaktionsweise zurückführen. Zwar fertigten die "Doctores juris" den Entwurf des Gesetzbuchs, aber die endgültige Fassung fanden die aus Ratsherren und Bürgern bestehende Kommission und der Rat, die durch langjährigen Dienst in Verwaltung und Gericht mit dem heimischen Recht aufs engste vertraut waren. Wie sehr damals das römische Recht modern geworden war, zeigt die Tatsache, dass Nürnberger Buchverleger 1475 das "Corpus juris civilis" und später romanistische Gutachtensammlungen italienischer Juristen druckten und herausgaben.


Wenn man von ihrer deutlich judenfeindlichen Tendenz absieht, war die Nürnberger Reformation ein bedeutendes juristisches Werk. Sie erregte allseits großes Interesse, erst recht, nachdem der Rat sich entschloß, 1479 eine Inhaltsübersicht samt Register und 1484 den gesamten Text durch die Presse Anton Kobergers zu veröffentlichen. Dank Inhalt und Druck trat sie einen Siegeszug durch ganz Deutschland an. Bald, 1497, wurde sie in Augsburg nachgedruckt, 1503 und 1522 in Nürnberg zum Teil revidiert und neu aufgelegt, 1564 wesentlich im romanistischen Sinne umgearbeitet und wiederveröffentlicht. Ihr Wert ermißt sich aus dem Einfluß auf andere deutsche Gesetzgebungen. Die Nürnberger Reformation diente zum Teil als Vorbild dem Tübinger Stadtrecht von 1493, der hessischen Gerichtsordnung von 1497, der Wormser Reformation von 1499, dem bayerischen Landrecht von 1518, der Windsheimer Reformation von 1521, dem Dinkelsbühler Stadtrecht von 1536, dem Württemberger Landrecht von 1555. Die Ausgabe von 1564 wurde benützt von Fichard in seinen Gesetzgebungen für die Grafschaft Solms von 1571 und für die Stadt Frankfurt von 1578. Sie wurde weiterhin verwendet durch die Hansestadt Hamburg 1603/5, in der Amtsordnung der Markgrafschaft Ansbach von 1608, in der Landgerichtsordnung des Hochstifts Würzburg von 1618 und zuletzt in der Reformation der Stadt Dinkelsbühl von 1736. Die Nürnberger Kodifikation von 1479-1564 wirkte also in erster Linie auf den Westen Deutschlands ein. Ob sie z. B. im böhmischen Stadtrecht von 1579 berücksichtigt wird, wäre noch zu untersuchen. Seit der Reformation von 1479 gehören Nürnberg und später sein Territorium zum Gebiet des Gemeinen Rechtes, das subsidiär nach der Reformation galt.

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