Lebkuchen: Nürnbergs süßes Aushängeschild
Von Thomas Meiler (Text) und Christine Dierenbach (Fotos)
Als kulinarische Botschafter der Stadt erfreuen sich Nürnberger Lebkuchen weltweit großer Beliebtheit. Millionenfach geht das Backwerk rund um den Erdball. Klassiker schlechthin ist der Elisen-Schokolebkuchen, doch die Backkunst tritt nicht auf der Stelle. Die Lebküchner entwickeln das Traditionsgebäck sanft weiter und ergänzen es um neue Kreationen.
Es klingt nicht nur verheißungsvoll, es schmeckt auch so: In der süßen Pussanga-Lebkugel des Nürnberger Chocolatiers Wolfgang Marx gehen Elisenlebkuchen und Likör eine sündige Liaison ein. „Pussanga enthält aphrodisierende Pflanzenextrakte aus dem südamerikanischen Dschungel“, sagt Wolfgang Marx. Die neueste Kugel-Kreation war sein Beitrag zum Nürnberger Lebkuchen-Markt, mit dem die Lebkuchenbäcker alljährlich Ende Oktober die Saison eröffnen.
Die erotische Note passt sehr gut zum Nürnberger Traditionsgebäck. Exotisch sind Lebkuchen seit jeher. Ihre Vorläufer, die Honig- oder Pfefferkuchen, waren schon in der Antike bekannt. Außer Nüssen enthalten sie viele Gewürze, allen voran Zimt, daneben Anis, Ingwer, Kardamom, Koriander, Muskatblüte, Nelken oder Piment. Die verkehrsgünstige Lage am Schnittpunkt wichtiger Handels- und Gewürzstraßen und der Honig aus dem Reichswald machten die einstige Reichstadt früh zur Lebkuchen-Hochburg. Bereits Ende des 12. Jahrhunderts gab es nachweislich Lebküchner oder Lebzelter in der Stadt.
Wolfgang Marx, gelernter Koch, kam über die Desserts zur Schokolade. In einer kleinen Hinterhauswerkstatt in der Wöhrder Hauptstraße füllte er handgemachte Schokotafeln mit Lebkuchenmasse. 2008 hatte er ein wenig seiner aus Sahne, Rohschokolade, Zucker, Gewürzen und Elisenlebkuchen bestehenden Masse übrig und ließ sie über Nacht ruhen. Am nächsten Tag war sie fest geworden. Der 58-Jährige rollte sie zu Kugeln, überzog sie mit Schokolade und landete einen Volltreffer. „Pralinen aus festen Formen sehen gut aus, aber das wollen die Kunden nicht. Die wollen Handarbeit, okay!“, sagt der Mann mit dem Musketier-Bart. 14 verschiedene Kugelgeschmacksrichtungen gibt es unter anderem auf dem Christkindlesmarkt, bayernweit in ausgewählten Geschäften oder übers Internet. Die Lebkugel hat er als Marke schützen lassen. „Den Namen hätte ich schon mehrfach teurer an die Süßwarenindustrie verkaufen können. Aber warum sollte ich das tun? Ich mache Lebkugeln, so lange es mir Spaß macht“, betont Marx.
Tradition seit 1643 und modernes Qualitätssiegel
Überliefert ist, dass 1643 die erste geschworene Lebküchnerzunft mit 14 Mitgliedern eingetragen wurde. Die Rezeptur des süßen Backwerks war damals so geheim, dass der Rat der Stadt den Lebküchnern verbot, die Stadt zu verlassen. Noch heute schwört jeder Lebkuchen-Bäcker auf seine ureigensten geheimen Gewürzmischungen. Die Gefahr, dass sie die Stadt hinter sich lassen und ihre Backstuben etwa in Fürth ansiedeln könnten, ist indes gering. Dafür sorgt schon das EU-Qualitätssiegel „geschützte geografische Angabe“ (g.g.A.), mit dem sich in Nürnberg hergestellte Lebkuchen seit dem 2. Juli 1996 schmücken dürfen. Nürnberger Bratwürste wurden übrigens erst sieben Jahre später, 2003, bei der EU registriert.
Gleich zwei Verbände wachen darüber, dass ein Nürnberger Lebkuchen auch wirklich auf Nürnberger Stadtgebiet hergestellt wird und dem „traditionellen Handelsbrauch“, also überlieferten Rezepturen und Mischungen, entspricht: Die Arbeitsgemeinschaft Nürnberger Lebkuchen des Bundesverbands der Deutschen Süßwarenindustrie mit Sitz in Bonn, in der die großen Lebkuchenfabrikanten vertreten sind. Und der 2012 gegründete Schutzverband Nürnberger Lebkuchen der Bäckerinnung Nürnberg für die handwerklichen Lebküchnereien, dem Christian Albert vorsteht.
„Der Schutzverband verstetigt die notwendigen Kontrollen und Zertifizierungen und verringert den Aufwand für die einzelnen Mitglieder“, beschreibt Innungsmeister Albert dessen wichtigste Aufgabe. Denn nur wer eine seit 1978 geltende Qualitätsrichtlinie einhält, darf seine Produkte als Nürnberger Lebkuchen verkaufen. Darin ist beispielsweise geregelt, dass Elisenlebkuchen mindestens 25 Prozent Mandelkerne, Hasel- oder Walnüsse enthalten müssen. Der Anteil an Mehl darf zehn Prozent nicht übersteigen. Viele Lebküchner verzichten aber komplett aufs Mehl.
Von der Bäckerei zur Lebkuchenmanufaktur
Die 18 Mitgliedsbetriebe des Schutzverbands stellen im Jahr rund 160 000 Kilogramm Lebkuchen her, circa 20 Millionen Stück. Verbandschef Albert bringt es in seiner Bäckerei in der Parkstraße in Maxfeld pro Saison auf rund 6 000 Elisenlebkuchen für die überwiegend heimische Kundschaft. Der größte Mitgliedsbetrieb im Schutzverband, die Bäckerei von Bernd und Pia Woitinek, produziert mit 15 Beschäftigten von Ende August bis Weihnachten rund 22.000 Stück täglich. Die Produkte, „in der Hauptsache Elisen“, werden überwiegend an Zwischenhändler geliefert und bundesweit meist unter anderem Namen verkauft, sagt Bernd Woitinek. Die beliebteste Sorte? „Schokolebkuchen!“ Da muss er nicht überlegen.
Weil Woitinek 2001 eine kleine Halle in der Peter-Henlein-Straße in unmittelbarer Nachbarschaft seiner Bäckerei anmieten konnte, zog er nebenbei eine Lebküchnerei hoch. Vier Jahre liefen beide Geschäfte parallel, dann sattelte Woitinek komplett auf die Lebkuchenmanufaktur um. Mit reiner Handarbeit ist es nicht getan, ohne Maschinen geht bei ihm nichts mehr. Teig rühren, ihn auf Oblaten streichen, das Backwerk schokolieren, all das geschieht automatisch. Lange Fließbänder braucht er trotzdem nicht. Die Wege sind kurz. Rohlinge dürfen über Nacht eine geschmeidige Haut ausbilden, die sie anderntags im Ofen vor dem Austrocknen schützt. „So bleiben sie schön saftig. Ein guter Lebkuchen braucht genügend Zeit zum Trocknen“, bringt der 47-Jährige sein Erfolgsrezept auf den Punkt.
"Nuremberg is famous for Gingerbread in Germany"
Für Touristen gehört das romantische Erbe Nürnbergs aus Fachwerk und Butzenscheiben, Burg, Bratwürsten und Lebkuchen zusammen. Sebastian Ziegler, Reiseveranstalter und Organisator von Stadtführungen in Nürnberg, hat das erkannt. Bei jeder Altstadtführung stoppt er vor dem historischen Ladengeschäft der Bäckerei Düll in der Bergstraße. Zwischen Burg, Tiergärtnertorplatz, Dürerhaus und Heilig-Geist-Spital kommt eine kleine Stärkung gerade recht. „Nuremberg is famous for Gingerbread in Germany“, schwört der 31-Jährige eine Gruppe Kanadier und Australier auf die Verkostung ein. Die Senioren, die auf Flusskreuzfahrt durch Europa einen Nachmittag lang Station in der Noris machen, hören schon gar nicht mehr richtig zu. Ruckzuck räumen sie die Tabletts ab, die eine Bäckereiverkäuferin vor der Tür herumreicht.
Zeit zum Kaufen lässt das enge Programm erst einmal nicht. „Nach dem Rundgang kommt der eine oder andere zum Laden zurück und kauft ein“, erläutert Chefin Christine Düll. Die Bäckerei selbst, von Holger Düll in dritter Generation geführt, befindet sich nicht in der Bergstraße, sondern in einer kleinen Backstube in Schoppershof. In der Adventszeit werden täglich bis zu 6 000 Lebkuchen überwiegend in Handarbeit gefertigt, der Teig mit der Spatel auf Oblaten gestrichen, Stück für Stück, Blech auf Blech, Unikate allesamt. Farbenfroh stechen besonders die Lebkuchen mit fruchtigem Erdbeer- oder Orangenguss hervor. „Die werden auch im Sommer gern gegessen“, unterstreicht Christine Düll.
Der Leuchtturm der Lebkuchenstadt
Eindeutig ein Winterprodukt ist die Bratapfel-Elise von Lebkuchen Schmidt. „Sie enthält Apfelstückchen aus Südtiroler Äpfeln“, preist Marketingleiter Erhard Frank den „Schmidt-Lebkuchen des Jahres“ an. Nur hochwertige Rohstoffe würden verarbeitet, daran habe sich auch nach dem Tod von Henriette Schmidt-Burkhardt nichts geändert. Die im Februar 2014 verstorbene Firmenchefin ist im Lebkuchenimperium nach wie vor omnipräsent. „Wir setzen aus Tradition auf Qualität. Dafür stehen wir mit dem Namen Henriette Schmidt-Burkhardt ein, da dürfen wir uns keine Fehler erlauben“, betont Frank.
Schmidt in der Zollhausstraße in Nürnberg-Langwasser ist so etwas wie der Leuchtturm der Lebkuchenstadt. 1926 verschickte der Kaufmann E. Otto Schmidt erstmals überregional Lebkuchensortimente und legte damit den Grundstein für das Unternehmen, das heute in mehr als 100 Länder liefert. 60 Prozent der Ware werden verschickt, die restlichen 40 Prozent gehen in bundesweit 120 Eisdielen über die Theke, die von Oktober bis Dezember zu Lebkuchen-Geschäften umfunktioniert werden. Denn Lebkuchen sind nach wie vor ein Saisongeschäft: 80 Prozent seines Jahresumsatzes erwirtschaftet das Unternehmen in den Monaten November und Dezember.
Von September bis kurz vor Weihnachten produzieren und vertreiben circa 800 Schmidt-Mitarbeiterinnen und -Mitarbeiter bis zu drei Millionen Lebkuchen – pro Tag. „Lebkuchen sind kein triviales Produkt, sie selbst zu backen ist schwierig“, sagt Herstellungsleiter Rainer Schmucker. Nahezu alles passiert computergesteuert und vollautomatisch: das Füllen der Kessel, das Rühren und Portionieren des Teigs, das Trocknen der Lebkuchen auf einem von sechs rund 800 Meter langen Fließbändern, das Backen in einem 30 bis 40 Meter langen Ofen am Ende jeder Linie, das Abkühlen, das Verzieren, das Verpacken.
Als industrieller Hersteller ist Schmidt ebenso wie die Inhaber der Marken Haeberlein-Metzger, Schuhmann, Weiß, Wicklein und Wolff Mitglied der Lebkuchen-AG im Süßwarenindustrie-Verband. Wie die Bäckerinnung im Kleinen, organisiert der Industrieverband im Großen das g.g.A.-Kontrollverfahren durch einen Zertifizierungsbetrieb. Zudem übernimmt die AG die „firmenneutrale Öffentlichkeitsarbeit“, wie Verbandsgeschäftsführerin Beate Olzem mitteilt. Diese beschränke sich vorwiegend auf die Poststempelwerbung jeden Herbst. Von Oktober bis Dezember werden Sendungen aus dem Briefzentrum Nürnberg mit dem Aufdruck „Nürnberg – Stadt der weltberühmten Lebkuchen“ versehen. Wie viele Umschläge jedes Jahr mit diesem Signet von Nürnberg aus in alle Welt gehen, wie viele Lebkuchen jährlich in Nürnberg gebacken werden, das ist so geheim wie die Rezepturen von Gewürzmischungen.
Von bio-fairen Lebkuchen bis zur Lebkuchenbratwurst
Es gibt noch mehr Innovationen: Die Lebküchnerei Witte setzt auf Lebkuchen-Konfekt, die Köche des „Essigbrätlein“ kredenzen unter dem Label „Leib & Lebkuchen“ besondere Elisen-Variationen, die Konditorei Neef verkauft Mini-Lebkuchen „to go“, und Vollkorn-Bäcker Herbert Imhof trumpft mit der ersten Fair-Trade-Version auf. Wer selbst beim Grillen nicht auf Lebkuchengeschmack verzichten will, dem sei die Lebkuchenbratwurst empfohlen: Metzgermeisterin Nina Weiß aus Herpersdorf hat es geschafft, die beiden Nürnberger Spezialitäten in einem Produkt zu vereinen.