10:00 Uhr
Begrüßung
Prof. Dr. Julia Lehner, 2. Bürgermeisterin Geschäftsbereich Kultur
10:10-10:30 Uhr
Einführungsvortrag: Über die Erinnerungskultur der Privilegierten
Gürsoy Doğtaş, Kunstkritiker und Kurator
Rassismus zeigt sich nicht nur als ein konkretes, gewaltvolles und individuelles Fehlverhalten von Einzelnen, die vorsätzlich ausgrenzen, diskriminieren und dehumanisieren, sondern hat eine systemische Ebene, die über jene Einzelfälle hinausweist. Eingeschrieben in die historisch etablierten Machtverhältnisse, prägt dieser strukturelle Rassismus die Gesellschaftsordnung. Sowohl die politischen und ökonomischen Strukturen dieses gesellschaftlichen Systems als auch dessen Rechtsvorstellungen bewirken. Derselben strukturellen Voreingenommenheit unterliegen auch die Institutionen der Gesellschaft, sei es Medien, Justiz oder Kultureinrichtungen wie Museen oder Theater. Die dauerhafte Benachteiligung sozialer Gruppen durch überindividuelle Normen und Routinen, eines der Grundzüge des institutionellen Rassismus, bleibt selbst dann aktiv, wenn diese Institutionen an die Opfer der Attentate der rechtsextremen Terrorgruppe des Nationalsozialistischen Untergrunds erinnern wollen. Da kann beispielsweise das NS-Dokumentationszentrum München eine Kunst an der Außenfassade des Münchner Strafjustizzentrums (hier fand zwischen 2013 und 2017 das Hauptverfahren gegen die Verbrechen des Nationalsozialistischen Untergrunds) in Auftrag geben und zur Verantwortlichkeit des Erinnerns aufrufen, ohne, dass sich die Betroffenen von rassistischer Gewalt erkennbar daran beteiligen konnten bzw. involviert wurden.
10:30–12:20 Uhr
Panel: Die Gewalt nach der Gewalt
Ayşe Güleç, Co-Kuratorin der Ausstellung „Offener Prozess“ (Staatstheater Nürnberg), Team documenta 15
Ulf Aminde, Künstler, Weißensee Kunsthochschule Berlin
N.N., Vertreter*in Initiative Das Schweigen durchbrechen!
Moderation: Gürsoy Doğtaş
In der Liegnitzer Straße in Nürnberg, wo Enver Şimşek zum ersten Mordopfer des NSU wurde, wurde die Gedenktafel, die an seine rassistische Ermordung erinnern soll, bereits dreimal entwendet. Einmal wurde sie im Wald wiedergefunden und konnte neu angebracht werden, zweimal blieb sie verschwunden. In der Scharrerstraße, wo am 9. Juni 2005 İsmail Yaşar dem NSU zum Opfer fiel, wurde der Spruch „Kein Vergeben“ geschwärzt. An der Ecke Siemensstraße/Gyulaer Straße, wo Abdurrahim Özüdoğru am 13. Juni 2001 in seiner Änderungsschneiderei ermordet wurde, erinnert nach wie vor nur die von der Initiative „Das Schweigen durchbrechen!“ angebrachte Tafel an den Mord. Von der Inschrift „von Nazis ermordet“ war das Wort „Nazis“ vollständig weggekratzt worden. Der oder die Täter*innen kratzten damit gegen die Wahrheit an, so wie die Ermittlungsbehörden während der Morde und Anschläge über Jahre rechten Terror als Tatmotiv ausgeschlossen hatten. Erst 2011 wurde klar: beide Anschläge wurden von dem rechtsterroristischen NSU Netzwerk begangen und zielten in ihrer rassistischen Ideologie deutlich auf eine Verunsicherung der post-migrantischen Gesellschaft. In einer Täter-Opfer Umkehr wurden die Betroffenen der NSU Morde verdächtigt, selbst hinter dem Attentat zu stehen, anstatt ihnen zu zuhören und ihr Wissen anzuerkennen. Die Betroffenen in Köln sprechen von der „Bombe nach der Bombe“ meinen damit die rassistischen Ermittlungen gegen sie selbst und rekurieren auf die auf Massenmord ausgerichtete Nagelbombe von 2004. „Die Gewalt nach der Gewalt“ knüpft an diese Formulierung an und hebt hervor, dass selbst das Gedenken an die Opfer attackiert wird. Damit wird deutlich, dass Enver Şimşek, Abdurrahim Özüdoğru, Süleyman Taşköprü, Habil Kılıç, Mehmet Turgut, İsmail Yaşar, Theodoros Boulgarides, Mehmet Kubaşık, Halit Yozgat und Michèle Kiesewetter sogar als Tote noch Ziel der Gewalt sind. In der Verweigerung die Toten zu betrauern setzten sich jene gewaltvollen Machtverhältnisse fort, die zuvor den Angehörigen der Opfer und Betroffenen das „Recht auf Erinnerung“ verwehrten.
12:30–13:30 Uhr
Talya Feldman (dig.), Künstlerin, Überlebende des rassistischen und antisemitischen Anschlags von Halle, Initiatorin der Webplattform Wir Sind Hier
İbrahim Arslan (dig.), Aktivist, Überlebender der rassistischen Brandanschläge von Mölln
Moderation: Sophie Goltz (dig.), Internationale Sommerakademie der Bildenden Künste Salzburg
Projektbeschreibung „Wir Sind Hier“, Talya Feldman: In den letzten Jahrzehnten haben die Überlebenden des rechten Terrors in Deutschland und die Familien der Opfer darum gekämpft, die Erinnerung an die Opfer von Rassismus und Antisemitismus nach 1945 wiederzuerlangen. Diese Kämpfe wurden mit städtischen Beamt*innen, mit Nachbar*innen, mit Politiker*innen, mit Medienvertreter*innen und mit Künstler*innen ausgetragen. Sie kämpften um das Recht, gehört und gesehen zu werden und um Veränderungen in Politik, Justiz und Zivilgesellschaft zu erreichen. Diese Kämpfe betrafen physische Räume: Straßennamen, Räume der Solidarität, Schulen, Parks und Denkmäler. Diese Kämpfe galten der Sprache - und dem Recht, den Opfern des Terrors so zu gedenken, wie es ihnen gebührt - durch die am meisten Betroffenen, ihre Familien und Freund*innen. Wir Sind Hier, ein neues Projekt von Talya Feldman in Zusammenarbeit mit dem Solidaritätsnetzwerk und verschiedenen Initiativen in ganz Deutschland, die sich gegen rechten Terror einsetzen, untersucht, was es bedeutet, sich in einem digitalen Raum zu erinnern und das Gedenken einzufordern, das im physischen Raum nicht eingefordert werden kann. Der digitale Raum ermöglicht es, unsere Städte und Stadtpläne zurückzuerobern und neu zu gestalten - durch die Stimmen derer, die sich weiterhin gegen den Terror stellen und Veränderungen anstoßen. Er enthält Videomaterial von Straßen sowie Karten mit eingezeichneten Orten, für die ein wachsendes Netzwerk der Solidarität zwischen Überlebenden, Familien von Opfern und Initiativen in ganz Deutschland gekämpft hat. Online existiert die Erinnerung als aktive Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Diese Plattform beginnt daher sowohl am Ende als auch am Anfang - mit den Namen der Opfer der jüngsten rechtsextremen Anschläge und scrollt nach oben zu den Namen der Opfer von 1979. Dieses Projekt ist noch nicht abgeschlossen und wird regelmäßig aktualisiert. So wie sich die Erinnerung ändert, so ändern sich auch die Forderungen nach Gedenken, und so werden immer mehr Überlebende und Familien aktiviert, sich zu erinnern und zu sprechen. „Wir Sind Hier" ist eine Erklärung im Gedenken an die Ermordeten, aber auch an diejenigen, die den Kampf für die Erinnerung und für eine Zukunft ohne Gewalt in unseren Städten fortsetzen. Namen werden hinzugefügt, sobald sie gemeldet werden. Die Stimmen werden sich mit der Zeit ändern. Dieser Raum des Gedenkens – als digitaler Raum – wird für immer bestehen. Ein Raum der kollektiven Trauer und des Widerstands. Diese Plattform wurde von Talya Feldman in Zusammenarbeit mit Tuan Quoc Pham entworfen.
14:30–16:30 Uhr
Kritischer Spaziergang zu NSU-bezogenen Orten
mit Birgit Mair, Institut für sozialwissenschaftliche Forschung, Nürnberg
Wir werden zwei NSU-Tatorte in der Nürnberger Südstadt besichtigen, die Gyulaer Straße und die Scharrerstraße. In der Siemensstraße / Ecke Gyulaer Straße wurde der Familienvater Abdurrahim Özüdoğru 2001 ermordet. Mit derselben Waffe erschoss man vier Jahre später in der Scharrerstraße İsmail Yaşar, Vater von drei Kindern. Wir werden unter anderem erfahren, inwieweit Hinweise auf Neonazis an beiden Tatorten von den polizeilichen Ermittler:innen ignoriert wurden und welche Folgen die einseitigen Ermittlungen für die Familien der Mordopfer hatten. Im Anschluss daran besichtigen wir das zentrale Mahnmal für die Opfer des NSU am Kartäuser Tor (U-Bahn Opernhaus). Wir werden dort weitere Informationen über die Taten, die Opfer und den gesellschaftlichen Aufarbeitungsprozess erhalten und erfahren, welche Fragen bis heute offen sind.
17:00–19:00 Uhr
Keynote Lecture: Identity, Art, and the Aesthetic Effusiveness of Racialized Possibility
Monique Roelofs, Kunsttheoretikerin und Philosophin, Universität Amsterdam
Wenn wir eine historische Perspektive auf Identität und Kunst einnehmen, stellen wir fest, dass die weiße europäische Subjektivität und Erfahrung die Skripte der Ansprache zwischen Künstler*innen, Werken und Öffentlichkeiten maßgeblich bestimmt haben. Diese Skripte sind in sozialen Institutionen, einschließlich globaler Marktformationen, verankert und spielen eine organisatorische Rolle unabhängig von den Identitäten der jeweiligen Adressat*innen. Sie zu revidieren und alternative Skripte zu entwerfen, erfordert komplizierte ästhetische Strategien. Obwohl Identität in der Kunst unausweichlich ist, funktionieren die entsprechenden Skripte nicht in monolithischer Weise, indem sie eine Eins-zu-eins-Übereinstimmung zwischen Kunstwerken und bestimmten Öffentlichkeiten/Identitäten herstellen. Ästhetische Form und Erfahrung haben einen komplexeren Charakter. Nach einer kurzen Betrachtung von Texten von Borges und Eltit, die Distanzen und Annäherungen zwischen dem Selbst in der Kunst und dem Leben markieren, die eine kritische Lektüre erfordern und „Sudacas“ und „Kanakes“ implizit in dieselben kommodifizierten Strukturen der Öffentlichkeit einordnen wie die weiße europäische Mittel- und Arbeiterklasse, werden in diesem Vortrag die beteiligten Identitätsfigurationen in den Werken von Kara Walker, Pope.L und Isaac Julien untersucht, die Race unter anderen Bedingungen ästhetisieren. Ich zeige, wie das Ästhetische von zentraler Bedeutung für unsere Fähigkeit ist, unsere rassifiziertenIdentitäten auf offene Weise zu bewohnen und restriktiven normativen kulturellen Abgrenzungen mit einer Umarmung der überschwänglichen ästhetischen Möglichkeiten zu begegnen, die noch zu verwirklichen sind.
Lecture/Performance: Pope.L (dig.), Künstler, Chicago
Pope.L: Seit einige Jahrzehnten interveniert Pope.L mit provokanten, amüsant entwaffnenden und zuweilen auch leisen Performances in den öffentlichen Räumen Nordamerikas und anderen Teilen der Welt. Mittels der Kunst hinterfragt er das vorherrschende Verständnis VON „Öffentlichkeit“ und die sie definierenden Diskurse. Zu diesen zählen gesellschaftliche Kategorisierungen wie Identität oder race ALS PHÄNOMENOLOGIE oder auch Systeme wie NationALITÄT ODER Sprache. Mit Mut, Beharrlichkeit und Humor durchbricht er homogene Räume im Interesse einer Gegenöffentlichkeit (ODER FÜR SEIN EGO, DAS IST NICHT GANZ KLAR). In seinem Vortrag wird er anhand ausgewählter Interventionen HOFFENTLICH auf seine Arbeitsmethodik ODER DEREN FEHLEN wie auch auf die politischen Umstände seiner Arbeit eingehen.
Moderation und Q&A mit Roelofs im Anschluss an die Performance von Pope.L: Kerstin Stakemeier, Kunsttheoretikerin, Akademie der Bildenden Künste Nürnberg