Anfang Mai, Montag früh: Die Woche beginnt mit zwei Online-Konferenzen. „So beginnt bei uns jede Woche.“, erklärt mir Tuija, meine finnische Kollegin. Ich bin für eine Woche an der Otavan Opisto, einem Schulkomplex mitten in Finnland.
Dort versuche ich mir im Rahmen einer ERASMUS-Mobilitätsaktivität von den Skandinaviern ein paar Anregungen und Kniffe abzuschauen, wie Digitalisierung im Schulalltag gelingen und sinnvoll eingesetzt werden kann. Und dass alle hier den Umgang mit digitalen Hilfsmitteln routiniert umsetzen, kann ich in den ersten Stunden schon erleben.
Immerhin bin ich der Einzige der sechsköpfigen Runde, der zur Sicherheit neben dem Laptop auch noch einen Stift und ein Blatt Papier vor sich liegen hat. Der Austausch per Tischmikrofon und mit wechselnden Kamerabildern der beteiligten Kollegen klappt wie am Schnürchen. Auch das Protokoll wird nebenher und vor allem von allen gleichzeitig geschrieben. Wer etwas mitzuteilen hat, hält dieses einfach selbst fest - dank Dokument in der Cloud kein Problem.
Otavan Optisto unterhält unter anderem ein Nettilukio, wie die Finnen ihr Online-Gymnasium nennen. Dass sie damit viel Erfahrung haben, erklärt mir Harri Jokinen, der Schul- und Verwaltungsleiter. Bereits 1996 startete Finnland mit Online-Unterricht, also noch weit bevor überhaupt jeder zuhause einen PC sein Eigen nennen konnte.
Trotz sehr dünner Besiedlung wird den Schülerinnen und Schülern in Finnland so ein äußerst breites Fachangebot ermöglicht. Bietet die eigene Schule beispielsweise keinen Deutsch-Fremdsprachenunterricht an, wird das Fach einfach ergänzend online belegt.
Mehr als 3000 Schülerinnen und Schüler nutzen so die eigens entwickelte Lernplattform Muikku, die zentraler Bestandteil der Online-Schule ist. Weitere 1000 Schülerinnen und Schüler holen in der Erwachsenenbildung dort ihren Abschluss nach und können dank Online-Materialien auch abends nach der Arbeit oder am Wochenende lernen. Der Unterricht wird für diese Schülerinnen und Schüler eigens aufgezeichnet und dann zur Verfügung gestellt.
Das alles wird mit einem Personalaufwand gestemmt, von dem wir an einer deutschen Schule nur träumen können: 8 Softwareentwickler entwickeln in Vollzeit die Lernplattform Muikku und 6 Content-Creator kümmern sich ausschließlich um deren Befüllung mit Lernmaterialien. Diese werden extern in Auftrag gegeben, begutachtet und schließlich an die Lernplattform angepasst den knapp 60 Lehrern zur Verfügung gestellt. Deren Hauptaufgabe ist dann die Begleitung der Lernenden. Dafür seien sie ausgebildet und Experten, erklärt mir Tuija, und nicht für die Erstellung von Online-Inhalten.
Mehrmals höre ich, dass es sinnvoller ist, einmal in etwas mehr Aufwand zu stecken und dafür dann für viele nutzbar zu machen. Davon ist auch Miia Sivén überzeugt, die Schulleiterin des Online-Gymnasiums ist. Sie erklärt mir auch, dass es an der Online-Schule (fast) keine Prüfungen gibt. Die Leistungsnachweise erfolgen rein über ein Lerntagebuch und dem Fortschritt in der Kursbearbeitung, die von den Lehrerinnen und Lehrern eng begleitet wird. Erst die Abiturprüfungen müssen dann in Präsenz an einer öffentlichen Schule abgelegt werden. Und selbst dafür gibt es eine speziell entwickelte Software, so dass die Prüfungen am Computer geschrieben und teilweise auch automatisiert korrigiert werden.
An der Otavan Opisto gibt es aber auch „klassischen“ Präsenzunterricht. Und der erinnert mich schon mehr an das, was man bei uns in absehbarer Zeit anstreben möchte: Die Lehrerin oder der Lehrer kommt mit ihrem oder seinem Dienstlaptop in das Klassenzimmer, schließt ihn an einer Docking-Station an und wechselt fließend zwischen digitalen Medien, Lerninhalten auf der Lernplattform sowie dem Whiteboard hin und her.
Einziger aber nicht ganz unerheblicher Unterschied: Jeder Schüler hat neben sich sein kostenlos zur Verfügung gestelltes Chromebook stehen. Und ich realisiere, dass sich anders diese Symbiose aus Off- und Online-Inhalten nicht herstellen lassen würde.
Auf meine Frage, wer sich denn um diese ganze Technik kümmert, werde ich in den Keller gebracht. Dort arbeiten ihre drei „Computer-Nerds“, wie Tuija sie scherzhaft nennt. Und deren einzige Aufgabe ist es, die Technik des Schulhauses am Laufen zu halten. So bekommt man bei Problemen schnell und unkompliziert Hilfe – und ich staune einmal mehr über den Personalaufwand, den sich diese Schule leisten kann.
Ich bin mir bewusst, hier selbst für finnische Verhältnisse keine „normale“ Schule besucht zu haben, und dass sich vieles von den hier umgesetzten Ansätzen nicht direkt bei uns umsetzen lässt. Trotzdem bin ich dankbar für die tollen Anregungen und Denkanstöße und vor allem für die unglaublich freundlichen, immer gesprächsfreudigen finnischen Kolleginnen und Kollegen, die sich wahnsinnig viel Zeit für mich und meine Fragen genommen haben.
Schade nur, dass auch Anfang Mai die Seen in Finnland noch immer zugefroren waren. Zu gerne hätte ich meinen Finnland-Aufenthalt mit ein paar Kajak-Ausfahrten abgerundet.
Hannes Forster