2006: Das Große Rasenstück
Eine Ausstellung der Stadt Nürnberg und des Deutschen Fußball-Bundes
Die WM-Stadt Nürnberg zeigte zur Fußball-Weltmeisterschaft Kunst im öffentlichen Raum. Auf einer Achse zwischen Hauptbahnhof und Burg, der "Laufmeile" aller Nürnberger Gäste, reihten sich vom 6. Mai bis 9. Juli 2006 spektakuläre wie auch nachdenkliche, leisere Arbeiten, die ungewöhnliche Kontrastbilder zur gemütlichen Mittelalterkulisse der Stadt setzten. Damit ermöglichte die Fußball-Weltmeisterschaft erstmals seit vielen Jahren in Nürnberg wieder eine intensive Auseinandersetzung mit internationaler zeitgenössischer Kunst im öffentlichen Raum.
Zur Fußball-Weltmeisterschaft 2006 wurde dieses "Kunst im öffentlichen Raum"-Projekt von den Kuratoren Raimar Stange (Berlin) und Florian Waldvogel (Frankfurt a.M.) realisiert. Inhaltlich drehte sich die Ausstellung um die Themen "Rasen", "Sport" und selbstverständlich vor allem um "Fußball".
Die Fragen nach der geschichtlichen und architektonischen Situation Nürnbergs waren ein Teil des Konzeptes. Zentral jedoch war die Frage nach der Qualität von Kunst im öffentlichen Raum am Anfang des neuen Jahrtausends. Was kann Kunst im öffentlichen Raum noch leisten, wie politisch darf und muss sie sein, wie ästhetisch avanciert, oder, auf der anderen Seite: Wie populistisch, unterhaltend, ja dekorativ gibt sie sich zwangsläufig? Und: Was überhaupt noch ist öffentlicher Raum heute? All dies wurde auf der Folie des Themas Fußball abgehandelt, der dabei mehr ist als bloßer MOTIVator, spielt er sich doch selbst prominent im öffentlichen Raum ab.
In diesem Sinne stellte „Das Große Rasenstück” ästhetische Arbeiten vor, die dank ihrer intensiven Beschäftigung mit den jeweils gegebenen historischen und sozialen Rahmenbedingungen nachhaltige und exemplarische Werke der Bildenden Kunst realisierten.
Auf einer Achse zwischen Hauptbahnhof und Burg, der touristischen "Laufmeile" Nürnbergs also, reihten sich zehn Arbeiten, die avancierte Positionen zeitgenössischer Kunst vorstellten. Damit ermöglichte die Fußball-Weltmeisterschaft, dank einer großzügigen Förderung durch den Deutschen Fußball-Bund, das Thema "Kunst im öffentlichen Raum" so augenfällig wie intelligent zu platzieren.
Die Kunstwerke
"When Saturday comes" von Silke Wagner
Die Frankfurter Künstlerin Silke Wagner verwirklichte auf dem Frauentorturm, gegenüber dem Nürnberger Hauptbahnhof, eine 8 x 12 Meter große Neoninstallation. "When Saturday comes" stellt Porträts, u. a. von Diego Maradona, Johann Cruyff und Symbole aus der Welt des Fußballs vor. Sie verwendete dabei eine Symbolik, die witzig-hintersinnige, aber auch kritische oder tragische Aspekte dieses Sports im wahrsten Sinne des Wortes "beleuchtete".
So z. B. die Flamme, die für das Unglück im Hillsborough-Stadion von Sheffield steht: Beim FA-Spiel (Football Association Challenge Cup, entspricht dem DFB-Pokal- Wettbewerb) FC Liverpool vs. Nottingham Forrest, bei dem mehrere Tausend Fans zuviel im Stadion waren, starben in Folge einer Massenpanik 96 Liverpooler Fans.
Dürers "Betende Hände" wiederum stehen für Diego Armando Maradona, der die "Hand Gottes" für das Zustandekommen seines ersten Tores im Spiel Argentinien vs. England bei der WM 1986 in Mexiko bemühte.
Wagner, die sich mit der Neonarbeit der Sprache herkömmlicher Werbebotschaften auf Fassaden bediente, drehte deren "anpreisenden" Charakter in einen kritisch-aufklärerischen um.
"Pavillons" von Olaf Nicolai
Der documenta-Teilnehmer Olaf Nicolai stellte fest, dass einige Plätze in der Nürnberger Altstadt nur als verwaiste Durchgangssituation verstanden werden und kaum zum Verweilen einladen. Daher war es sein Anliegen, die Insel Schütt als Ort einer urbanistischen Intervention mit Hilfe seiner Arbeit "Pavillons" neu zu beleben. "Pavillon", ein Begriff, der dem Vokabular der Gartenarchitektur entlehnt ist, wurde hier übersetzt in den Sportbereich, denn in den Nicolai’schen "Pavillons" konnte man eine besondere Form des "street football" spielen. Der Künstler wurde gleichsam zum Städteplaner, der dem urbanen Raum einen neuen, lustbetonten Gebrauchswert verleihte.
Der international renommierte documenta-Teilnehmer Olaf Metzel hatte seine skulpturale Arbeit "Auf Wiedersehen" für den Hauptmarkt entworfen. 780 Stadionsitze, Tribünenelemente und ein Stahlrohrgerüst bildeten die 17 Meter hohe Skulptur, die an den WM-Pokal, an zerstörte Stadien oder an den legendären Tatlin-Turm erinnerte. (Das 5 m hohe Monument "Mit voller Kraft" wurde 1919 von Vladimir Tatlin für die III. Internationale entworfen, ein kleiner Nachbau steht heute im Museum für Kunst und Gewerbe, Hamburg).
So trafen hier nicht nur High and Low, sowie Geschichte und Gegenwart aufeinander, sondern es wurde zudem mit den ZuSCHAUersitzen der Moment der Wahrnehmung (von Zeit) thematisiert: Wie idyllisch etwa ist Geschichte, wie brisant Gegenwart – ein Denkmal im besten Sinne.
Olaf Metzel zählt zu den renommiertesten deutschen Künstlern. Der Künstler beschäftigt sich immer wieder intensiv mit dem Thema Sport, so in Istanbul, wo er mit Christoph Daum den Kiosk "Besiktas Jimnastik Kulübü" einrichtete, in dem man Fandevotionalien erwerben konnte.
"Altered to Suit (Sol LeWitt incomplete open cube 6/23, 1974)" von Jonathan Monk
Ganz ruhig hingegen war die Arbeit des Briten Jonathan Monk. Auf dem Sebalder Platz und im Brunnengässchen stand das Skulpturenpaar "Altered to Suit (Sol LeWitt incomplete open cube 6/23, 1974)": Zwei pulverbeschichtete Aluminiumtore, im Abstand von 105 Metern (Länge eines Fußballfelds) aufgestellt, erinnerten an das Champions-League-Spiel Real Madrid gegen Borussia Dortmund am 1. April 1998, bei dem eines der beiden Fußballtore zusammenbrach, aber auch an Skulpturen des im Titel angesprochenen US-amerikanischen Minimal-Art-Künstlers.
"Posts" von Neville Gabie und "Lets try Football, my foot!" von Dan Perjovschi
Zwei Werke dienten als Klammer oder "Roter Faden", welche die Werke auf der Achse Hauptbahnhof – Burg verbanden:
Der in England lebende Südafrikaner Neville Gabie war mit zwölf großen Werbetafeln im öffentlichen Raum mit Fotografien aus seiner Publikation "Posts" und weiteren Bildern von Toren, die er in Nürnberg gemacht hat, vertreten.
Der Rumäne Dan Perjovschi war als Nürnberger "Stadtzeichner" mit seiner Arbeit "Lets try Football, my foot!" während der gesamten Ausstellungsdauer aktiv. Seine mit Kreide gezeichneten und deshalb flüchtigen Kommentare zum Alltagsgeschehen und zur Fußball-WM tauchten überall in der Altstadt auf.
Ganz besonders deutlich für die mit der Ausstellung "Das Große Rasenstück" verbundene Frage nach dem, was öffentlicher Raum heute ist und welche Funktion Kunst in ihm haben kann, standen drei Kunstwerke:
"Kochbuch für die Halbzeitpause" von Rirkrit Tiravanija
Pünktlich zur WM 2006 erstellte der Fußballfan und Hugo-Boss-Preisträger Rirkrit Tiravanija für "Das Große Rasenstück" ein "Kochbuch für die Halbzeitpause". Es enthält 16 Rezepte – für jedes Spiel ab Achtelfinale bis zum Finale eines – und vier zusätzliche für eventuelle Verlängerungen. Das Kochbuch erschien im Verlag für Moderne Kunst und ist in Buchhandlungen erhältlich.
"The Universal Square" von Uri Tzaig
Uri Tzaig hinterfragte in seiner künstlerischen Arbeit sportliche Spielregeln und deckte deren Funktion auf, Wettbewerb nicht nur zu leiten, sondern auch zu initiieren. So in seinem Video "The Universal Square" (1996/2006), in dem die Mannschaften mit zwei Bällen spielen müssen. Das Video "staring" wurde auf Monitoren in vier Bussen der Linie 36 gezeigt.
"George (George Best)" von Elizabeth Peyton
Elizabeth Peyton, eine der derzeit weltweit erfolgreichsten Malerinnen, zeigte ihre Arbeit "George (George Best)" in einem der bekanntesten öffentlichen Orte einer Stadt – dem Rathaus.
"ohne Titel" von Alexandra Bircken
Den Schlusspunkt der Ausstellung setzte die junge Kölner Künstlerin Alexandra Bircken. Sie knüpfte eine Skulptur aus Tornetzen, die in den Durchgang des Tiergärtnertors gehängt wird.
Katalog
Auch der Katalog vereinigte die Schnittpunkte des öffentlichen Raums, des Sports und der Kunst: Als Stadtführer konzipiert, wird die Publikation Texte zur Urbanität, zu den Themen Fußball, WM, Nürnberg, natürlich Texte zu den Künstlern und deren für Nürnberg erstellte Arbeiten enthalten. Um die Funktion als Fußballbuch zu unterstreichen, sind die Abbildungen der Kunstwerke als Klebebilder beigefügt.
"Das Große Rasenstück"– Zeitgenössische Kunst im öffentlichen Raum
Herausgegeben von Stadt Nürnberg und Deutscher Fußball-Bund
Kuratoren Raimar Stange, Florian Waldvogel
144 Seiten mit 94 Abb., Paperback. 13,6 x 21 cm
Nürnberg 2006, Verlag für moderne Kunst Nürnberg
24, Euro
ISBN 3-938821-41-8
ISBN 978-3-938821-41-1
Kochbuch für die Halbzeitpause
Im Rahmen der Ausstellung "Das große Rasenstück" konzipierte Rirkrit Tiravanija ein "Kochbuch für die Halbzeitpause". Der thailändische Künstler präsentiert dazu Rezepte – für jedes Spiel nach der Gruppenphase des Turniers eines –, die in der Halbzeitpause der Spiele zubereitet werden können. Flankiert werden die Rezepte von Photos, worauf Freunde zuhause am TV-Apparat Fußball schauen. "Zu Gast bei Freunden" lautet also, wie bei der WM auch, das sympathische Motto des Buches.
Kochbuch für die Halbzeitpause von Rirkrit Tiravanija
Herausgegeben von Raimar Stange, Florian Waldvogel
Vorwort von Raimar Stange, Florian Waldvogel
Text und 20 Rezepte von Rirkrit Tiravanija
Zweisprachig (Deutsch/Englisch)
56 Seiten mit 32 Abb., Paperback. 13 x 23,5 cm
Nürnberg 2006, Verlag für moderne Kunst Nürnberg
22,- Euro
ISBN-10: 3-938821-40-X
ISBN-13: 978-3-938821-40-4